Barfuß über das Wasser gehen

Ein begehbares Wunder, wir lieben das. „Floating Piers“ im Lago d’Iseo Foto: Filippo Venezia/ap

Am schönsten sieht es von oben aus. Wenn man die fetten Felder der Franciacorta hinter sich gelassen, den letzten Hügel überquert hat und, eingebettet in dunkel überwucherte Berge, der Lago d’Iseo schimmert. Christo und seine Frau Jean-Claude waren entzückt. Sie hatten den Ort gefunden, wo sie ihr Projekt „The Floating Piers“ verwirklichen wollten.

Das ist Jahre her, Jean Claude lebt nicht mehr. Der 81-jährige Christo hat dem See nun eine neue Dimension verpasst mit goldgelben Streifen, die wie eine schwer zu dekodierende Seevermessung aussehen, wie der Geheimplan zur schlauen Eroberung einer winzigen Insel.

Hierzu wurden 16 Meter breite, kompliziert verankerte Pontons über eine Strecke von mehr als drei Kilometern mit gelben, weich unterfütterten Tüchern bespannt. Sie verbinden das Örtchen Sulzano mit dem aus dem See hoch aufragenden Monte Isola und von dort mit dem winzigen Inselchen San Paolo, einst Verbannungsort für Leprakranke, das nun umfangen ist von einer goldfarbenen schwimmenden Plattform.

Barfuß soll man ihn gehen, den gepolsterten, sanft, fast unmerklich in den Wellen schwankenden Pfad, dann ist man Teil einer grandiosen Intervention, die zahllose Assoziationen weckt. Das wird an den wenigen Tagen bis zum 16. Juli, wenn der phänomenale Spuk wieder vorbei ist, kaum noch so zu erleben sein. Massen werden die sicherheitshalber von roten Bötchen gesäumten Piers stürmen. Sulzano wird mit wunderbar italienischer Wurstigkeit und routinierter Touristen­pflege dem andernorts unvermeidlichen Kollaps trotzen. Millionen Fotos werden von nun an und ewig durch die Plattformen geistern, keiner wird ins Wasser gefallen sein, und alle werden schwärmen.

Begehbare Wunder. Wir lieben das. Kostbare Zeitzeugen werden auch Christos monumentale Zeichnungen der „Floating Piers“ sein, auf denen in bewährter Weise die temporäre Installation zusammen mit einigen technischen Angaben dargestellt ist. Die erste ist schon auf der Art Basel bei Annely Juda für 1,5 Millionen Dollar offeriert worden. Dort gab es auch in der Sektion „Unlimited“ eine der frühen Store-Front-Installationen, die Mitte der sechziger Jahre in Paris entstanden, eine Eckkon­struk­tion aus (natürlich) verhängten schäbigen Schaufenstern von abgewrackten Läden. Sie hat glänzend überdauert – inspirierend und gedankenfrisch wie am ersten Tag. Annegret Erhard