„Bollywood versteht Terrorismus nicht“

TERROR Der indische Regisseur Prakash Jha erklärt, warum die Anschläge vor einem Jahr Indien kaum in die Knie zwingen konnten. Das Land ist schlicht zu tolerant

■ 1952 geboren, ist ein Filmemacher, der für sein soziales Engagement in Indien bekannt ist. Er gewann in den letzten Jahren drei der wichtigsten nationalen Filmpreise. Im Februar kommt sein bisher teuerster Film, „Politik“, in die Kinos. Mit über 7.000 Darstellern und Wahlaufmärschen zeigt Jha darin die Massendynamik populistischer Wahlkampagnen in Indien.

INTERVIEW GEORG BLUME

taz: Herr Jha, die Anschläge auf Bombay waren Indiens 11. November. Sie sprechen heute von „26/11“, wie die Amerikaner von „9/11“ sprechen. Welche Bedeutung haben die Ereignisse ein Jahr danach für Sie?

Prakash Jha: Ich habe Ihnen eben Bilder von einer Katastrophe gezeigt, die uns kurz vor 26/11 in Indien heimsuchte. 2,5 Millionen Menschen waren nach Fluten obdachlos geworden. Ich kümmerte mich um 6.000 von ihnen. Sie starben in unseren Flüchtlingszelten an Masern und Lungenentzündung. Ich erlebte ein Massenelend, das mich bis heute stumpf für die Dramatik der Terroranschläge macht. 26/11 war nichts dagegen.

Aber 26/11 dauert an. Ganz Bombay ist heute voller Plakatwände für Bollywoods neuen Terrorismusstreifen „Kurbaan“ (deutsch: Aufopferung). Hat die indische Filmindustrie die Herausforderung der Attentate angenommen?

Bollywood versteht Terrorismus nicht. Sein Wesen liegt nicht in der Bombe, sondern in der Angst vor ihr. Terrorismus hat einen Grund: ökonomische Ausgrenzung, soziale Verfolgung oder schlichtes Geschäft. Man darf Terrorismus nicht glorifizieren. An all diesen Dingen scheitert ein Film wie „Kurbaan“, obwohl er eine der größten Bollywood-Investitionen der letzten Jahre ist. Der Film zeigt leider nur einen Helden ohne Motive. Dafür aber lässt sich nun einer unserer wichtigsten Schauspieler, Saif Ali Khan, den auch ich sehr schätze und der nun wirklich ein nationaler Sympathieträger ist, im ganzen Land als Terrorist plakatieren. Da ist etwas richtig schiefgelaufen.

Zeigt der Film nicht auch, wie beliebig man 26/11 interpretieren kann?

Indien ist ein sehr tolerantes Land. Wir tolerieren Korruption, Armut, Hunger. Wir tolerieren die Ineffizienz unseres politischen Systems. Auch „26/11“ war nicht groß genug, um uns zum Handeln zu zwingen.

Als sich herausstellte, dass sämtliche Attentäter Pakistaner waren, fürchtete die Welt einen Atomkrieg. Ist es nicht Grund zur Erleichterung, dass die indische Regierung auf einen Gegenschlag verzichtete?

Diese Gefahr bestand nie. Damit wir Pakistan angreifen, muss viel mehr passieren. Aber noch heute besteht die Gefahr, dass sich 26/11 wiederholt. Als ich 1976 das erste Mal in Deutschland war, konnte ich kein Gebäude ohne Ausweis und vorherige Verabredung betreten. Damals fürchtete sich Deutschland vor weiteren Anschlägen der Roten-Armee-Fraktion. Heute in Bombay kann ich noch immer in jedes Gebäude ohne Papiere eintreten. Die öffentlichen Behörden müssten einfach mehr tun. Die Bürger brauchen mehr Sicherheit. Nur fehlt es schlicht an politischem Willen.

Wie fällt Ihr Vergleich der indischen Reaktion auf die Anschläge mit denen der Amerikaner auf die Angriffe auf das World Trade Center 2001 aus?

Amerika begriff die Angriffe als nationale Herausforderung. Die Amerikaner fühlten sich erniedrigt. Beides trifft auf uns nicht zu. Wir sagen heute, Indien sei zu groß und habe zu viele Menschen, um neue Sicherheitssysteme zu entwickeln, wie es die Amerikaner nach 9/11 gemacht haben.

Sprechen Sie von Gleichgültigkeit?

In Bombay starben vor einem Jahr 166 Menschen. Der innerindische Terrorismus der militanten Maoisten aber tötet jedes Jahr sehr viel mehr Menschen. Diese Maoisten sind schwer bewaffnet und rücksichtlos. Sie töten jeden Tag. In zehn indischen Provinzen lebt die Bevölkerung in ständiger Angst vor ihnen. Das haben wir jahrelang vor der Öffentlichkeit unter den Teppich gekehrt. Erst jetzt fangen wir an, die völlig unhaltbare öffentliche Sicherheitslage in vielen Teilen des Landes zu problematisieren.

Was bleibt von 26/11?

Es war nur die Spitze des Eisbergs. Die Anschläge beschämen uns, sie ärgern uns, aber sie waren unbedeutend.