Im Mahlstrom aus Sound

Vier Frauen sollt ihr sein: Die Rockband Electrelane aus Brighton spielte im Festsaal Kreuzberg – manchmal mit dem Rücken zum Publikum und immer souverän. Pianoläufe führten in den Aberwitz und dann in die Ekstase

Eigentlich läuft in Dingen Gender-Dekonstruktion im Rock alles bestens. Die ganzen neuen, wilden Rockbands aus New York, London und der Provinz Schwedens – allesamt reine Jungs-Formationen – brauchen vor ihren Liveauftritten in der Umkleidekabine wahrscheinlich länger als Angela Merkel vor ihrem Kanzlerduell, um sich zu stylen. Man muss schließlich super aussehen, der Anzug sollte lässig sitzen, und gegen ein wenig Kajal hat man nichts einzuwenden. In der aktuellen Ausgabe wirbt das Wom-Magazin denn auch damit, dass die als heißeste Rockband des Planeten gehandelten Franz Ferdinand in einem Interview endlich Auskunft über „Ponys und pinke Pullis“ gäben.

Electrelane aus Brighton dagegen, die man Frauenband zu nennen versucht wäre, wenn dies nicht so abgedroschen und emanzipatorisch rückständig klingen würde, ziehen eher männlich codierte Attribute auf sich. Bei ihrem Konzert in Berlin wirkten sie phasenweise gar wie ein Pendant zu Neil Youngs Crazy Horse, dieser grundehrlichen Männerclique, die so dermaßen rockt, weil sie eben etwas vom Rocken versteht. Auch Electrelane schienen sich, so wie man es bei Crazy Horse so gerne sieht, in ihrer Musik zu verlieren. Die vier Musikerinnen, Verity Susman als Sängerin, Emma Gaze am Schlagzeug, Mia Clarke an der Gitarre und Ros Murray am Bass, spielten gelegentlich gar mit dem Rücken zum Publikum, was als Ausdruck größtmöglicher Könnerschaft und Virtuosität gedeutet wird, Zuschreibungen, mit denen im Rock meist Männer versehen werden.

Das Erstaunliche bei Electrelanes Auftritt im Festsaal Kreuzberg war jedoch, dass dieser Geste so gar nichts ausgestellt Dekonstruktivistisches anhaftete und man sie nicht einmal als Zitat lesen konnte. Hätte eine Rrriot-girl-Band in den Neunzigern mit dem Rücken zum Publikum gespielt, hätte sie damit die Message transportieren wollen: Schaut alle her, wie die Jungs! Den Mucker- und Improvisationsorgien und dem selbstvergessenen Spiel von Electrelane dagegen haftete etwas Selbstverständliches an.

Das musste alles so sein, genau so. Electrelane mögen so ziemlich die einzige Band sein, die im Zuge des Rock-Hypes groß und bekannt geworden ist und ausschließlich aus Frauen besteht. Sie ist die musikalisch aufregendste von all diesen Bands. Ihre aktuelle Platte „Axes“, die von Steve Albini produziert wurde, ist eine echte Offenbarung. Den ganzen Jungs-Combos genügt es, mal diese und mal jene Band von damals zu zitieren und darauf zu achten, dass die Frisur richtig sitzt. Electrelane suchen dagegen nach musikalischem Aberwitz. Sie erinnern an Sonic Youth und Stereolab, gehen jedoch weit über deren Ausdrucksmöglichkeiten hinaus. Sie generieren einen Mahlstrom aus Sound, in dem Pianoläufe zur Ekstase führen und dessen Sogkraft permanent variiert wird. Da bauen sich Songs langsam auf, werden in eine ganz andere Richtung weitergeführt, und dazwischen werden Feuerwerkskörper gezündet: ein wenig Gesang, ein toller Tenorsaxofonpart, Klangexperimente auf der Gitarre.

Wer die Platten von Electrelane kennt, hatte gehofft, dass die Band ihre hochkomplexe Musik auch nur annähernd live zu reproduzieren vermag. Die vier Frauen waren jedoch noch viel besser; ihr Konzert war ein echtes Rockfest. Jim Jarmusch sollte über diese Band einen Film drehen. ANDREAS HARTMANN