Bühne frei im Nirgendwo

Theater Mit geballtem Programm zieht das Bremer Theater vom Goetheplatz hinaus nach Blumenthal, um kulturelle Entwicklungshilfe zu leisten. Und das ist auch nötig

Im Bremer Norden sind die Vorhänge längst gefallen: Bäckerei in Blumenthal Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

von Jens Fischer

Was ist denn hier los? Plötzlich regt sich wieder was in der toten Hose Blumenthal. Das Theater Bremen kommt uneingeladen vorbei, hatte alle Abteilungen des Hauses animiert und einfach mal Auswärtsspiele verschenkt. Übernimmt dabei aber nicht die Auswärtstaktik des Fastbundesligaabsteigers seiner Heimat – nämlich ballhaltend abzuwarten, was die Einheimischen so anzubieten haben, um sich dann mit künstlerisch wertvollen Kontern an der eigenen Raffinesse zu berauschen. Das Theater wählt Werders Heimtaktik für den Besuch in der Fremde: lädt den Spielpartner ein, zu gewinnen. Will mit großer Kunst und kleinen Gesten ein Wachküsser sein. Oder wenigstens ein Wachstreichler. Ohne das Wachpieksen zu vergessen. Und Wachkaffee wird auch serviert.

„Dass hier mal wieder was passiert und so das Selbstbewusstsein der Blumenthaler steigt“, hofft Ortsamtsleiter Peter Nowack vom sechstägigen Festival. Zu dem das Theater auch reichlich Fans als Zuschauer mitbringt. Also den Stadtteiltourismus ankurbelt. Lockmittel: Theaterhits sind als Gastspiele im gediegenen Industriebrachen-Ambiente der ehemaligen Wollkämmerei zu erleben.

Das Quartier stirbt

„Hier in der Banlieue Bremens gibt es kein Miteinander, nur zehn Leute sind derzeit für den Stadtteil aktiv“, hat Daniel Schnier von der Zwischenzeitzentrale beim Vermitteln von Leerständen festgestellt. „Nach dem Festival sollen es mindestens 30 sein“, ergänzt Quartiersmanagerin Carola Schulz. Das wäre ein Lebenszeichen. Denn Blumenthal liegt im Sterben. So die Eindrücke auf der ehemaligen Flaniermeile Mühlenstraße. Von der Botanik zurückeroberte Parkplätze gibt es dort, Kneipen wie „Ingos Treff“, aber auch „City Back“, Leder- und Papierwarengeschäfte, Hobby-Töpfer-Bedarf- und der türkische Gemüsehändler, alle haben aufgegeben. Sogar „Stephans Kramseck“ ist trotz „Qualität zu Monsterpreisen“ geschlossen. Post, Kiosk: sorry closed. Drogerie- und Lebensmitteldiscounter: leer. Sogar eine Spielhalle: dicht. Ganze Wohnblöcke: unbewohnt.

Zeit für Visionen

Wie ein Filmset zum Thema sterbende Provinz. Nur Dönerimbiss, Frisör, Sportwettenanbieter und ein Thirdhandladen haben noch offen. Am Marktplatz gibt es noch zwei gepflegte Geschäftshäuser mit entsprechender Innenarchitektur: eine Billigheimerkette und die Schuldnerberatung. So viel Leerstand, so viel siechender Stillstand, so viele Fehlentwicklungen – „so viele inspirierende Anlässe für künstlerische Visionen“, betont Festivalmacherin Natalie Driemeyer.

Bester Einstieg, dem Stadtteil näherzukommen, sind die Blumenthal-Walks. Teilnehmer bekommen eine Wundertüte überreicht – voller Reiseziele für eine etwa zweieinhalbstündige Tour. Autor Gerhard Koopmann führt beispielsweise zur zentralen Grünanlage, liest eine seiner Kurzgeschichten und erzählt: „Hier auf der Bahrsplate war früher ein Außenlager des KZ Neuengamme, Zwangsarbeiter wohnten in Baracken.“ Nach dem Krieg wurde dort der Weser- zum Badestrand. „Richtig schön war es hier.“

Und warum ist das nicht mehr so? „Vulkan hatte mal 6.500 Arbeitsplätze, machte 1997 dicht, auf dem Spinnbaugelände in Farge gab es bis zur Jahrtausendwende noch etwa 1.000 Jobs und bei der Wollkämmerei arbeiteten mal 5.000 Leute, die machte 2009 endgültig dicht.“ Wer Arbeit brauchte, zog weg. „Die Rentner und die wenig Qualifizierten blieben“, ergänzt der Ortsamtsleiter. „Früher war das herrlich hier, eine lebendige kleine Stadt, der Einzelhandel hatte alles, was man brauchte, sogar hochwertige Textilien im Kaufhaus Nordenholz“, erinnert sich Brigitte Luttkus, die bei den Walks ein Nähprojekt für Geflüchtete vorstellt.

Die Kunst zieht ein

Im gegenüberliegenden Festivalbüro, einer ehemaligen Konditorei, hat es sich Schauspielerin Karin Enzler mit Literatur und Musik im Appenzeller Schwyzerdeutsch gemütlich gemacht. Heilsingen ist im Wasserturm angekündigt, in der ehemaligen Sparkasse wartet eine 35-Meter-Carrera-Bahn auf Rennsportfreunde. Auch ernsthafte Diskurse werden versprochen zum Festivalthema: Wie wollen wir arbeiten, wohnen, essen, leben, lieben?

Der Marktplatz soll mit Multikulti-Begegnungskultur belebt werden. Wie auch das Rathaus. Alle 39 Räume stehen leer, nachdem die Mitarbeiter für die öffentlichen Dienstleistungen entfernt wurden, der Ortsamtsleiter und auch das Jobcenter ausgezogen sind. Nicht einmal das scheint sich in Blumenthal zu lohnen.

Samstag, 4. Juni

„Utopien, Dystopien und Gesellschaftskritik“, Vortrag Sina Farzin, 14.15 Uhr, Ortsamt

Robin Hood, 15 Uhr, Seniorenzentrum Haus Flethe

Koch-Kultur, 18 Uhr, Markt

Mowgli, 19.30 Uhr, Verwaltung der Woll-Kämmerei

Straßenmusik der Freizi-Bands Lüssum und Farge, 21 Uhr, Markt

Sonntag, 5. Juni

Treffen mit Festival- und Orts­amtsleitung, 13 Uhr, Ortsamt

Kinderfest, 13 Uhr, Markt

Heimatstunden (Konzert), 15 Uhr, Festivalbüro

„Wir könnten auch anders“ (Film), 15 Uhr, Ortsamt

The Maidenhair Tree & The Silver Apricot (Konzert), 19.30 Uhr, Verwaltung der Woll-Kämmerei

Salon del Norte (Konzert), 19.30 Uhr, Markt

Straßenmusik und Tangokurs, 21.15 Uhr, Markt

Mehr unter: www.theaterbremen.de/auswaertsspiel

Das Eichenholz-edle Ambiente des denkmalgeschützten, jetzt villakunterbunt geschmückten Prachtbaus wird nun von lokalen Künstlern genutzt. In den Kellerräumen, in denen noch der Gewehrschrank der Polizei und die Pritsche in der Gefängniszelle stehen, ist eine Diaschau-Installation zur Woll-Historie des Stadtteils zu erleben.

Gekommen, um zu bleiben

Das Auswärtsspiel will nicht nur Stadtfest für die Gastgeber und Kulturreiseangebot für die Gäste sein, auch Anlass für Funken von Nachhaltigkeit. Das Rathaus soll nach Festivalende von der Bremer HfK genutzt werden. Der Mietvertrag fürs Festivalcafé läuft ein Jahr, darf also als Treffpunkt und Veranstaltungsort weitermachen.

Und aus der Festivalwährung möchte der Ortsamtsleiter ein allgemeines Zahlungsmittel machen – damit gemeinnütziger, auch künstlerischer Arbeit ein monetärer Wert zugewiesen wird. Ist jemand diesbezüglich 15 Minuten bei einem der 25 Festivalpartner tätig, wird das mit einem Gutschein für frisch gedruckte 500-Blumentaler-Scheine honoriert.

In der Blumenbank, einer ehemaligen Bäckerei, werden sie ausbezahlt. Für 1.000 Blumentaler bekommt man gegenüber im Eiscafé zwei Kugeln auf die Waffel oder nebenan ein Stück Kuchen mit Kaffee. Für 3.000 Blumentaler soll ein Theaterticket zu erwerben sein. Derzeit akzeptierten acht Geschäfte die lokale Währung. Versucht wird, auch beim türkischen Bäcker, dem neuen Edekamarkt usw. einen Wechselkurs zu organisieren. „Noch sind wir hier die Aliens“, sagt Daniel Schnier, derzeit als Anlagenberater für Blumentaler tätig. „Wir wollen aber Blumentaler-Millionärsmacher werden.“

Die Auswärtsspiele werden noch heute und morgen sowie vom 10. bis 12. Juni ausgetragen