Ohren auf für Neues

Hörgewohnheiten Von Pflanzenmusik bis Elektroparanoia: Zum elften Mal lädt das Festival „Blurred Edges“ zur Entdeckungsreise durch die experimentelle Musik

Vielfältige Wechselwirkungen zwischen Material, Objekt und Klang: Installation von Rubén D‘Hers und Alexandre Joly Foto: Rubén D‘Hers

von Robert Matthies

Lauter sensible Diven leben in dieser Künstler-WG in Amelinghausen in der Lüneburger Heide. Spürbar eifersüchtig sind sie, wenn gerade eine andere im Mittelpunkt steht, manchmal ist einfach nicht ihr Tag und wenn sie vor Publikum stehen oder Elektrosmog ausgesetzt sind, sind sie oft so aufgeregt, dass man gar nichts Vernünftiges mehr mit ihnen anfangen kann.

Denn die 31 Musikerinnen, mit denen der Künstler Harald Finke unter einem Dach lebt, sind allesamt Pflanzen, mit denen der 75-Jährige in Dialog tritt, wie er es ausdrückt: An die Blätter von Azaleen oder Drachenbäumen schließt er einen hoch­ohmigen Differenzverstärker, schickt die Messdaten durch einen AD-Wandler und dann durch ein spezielles Musikprogramm. Dazu spielt er Didgeridoo und der Musiker Matthias Winkler Klavier: Pflanzenmusik nennen sie das Ergebnis.

Klingt ein bisschen nach Esoterik und Baumumarmen, ist im US-amerikanischen Philadelphia aber seit ein paar Jahren heißer Scheiß. Eine richtige Do-it-yourself-Biofeedback-Bewegung entwickele sich dort gerade, berichten Joe Patitucci und Alex Tyson vom Künstlerkollektiv und Label Data Garden. Seit zwei Jahren vertreiben sie nicht nur pflanzengenerierte Elek­tronikmusik, sondern auch den Midi-Spross: ein Gerät, mit dem jeder Soundtüftler seine Pflanzen an einen Synthesizer anschließen kann.

Inspiration dafür kann man sich am Sonntag in zwei Wochen holen: in Neuenfelde, wo Kulturwissenschaftler, Landschafts­architekten und Künstler um den ehemaligen Soulkitchen-Halle-Betreiber Mathias Lintl ein „Refugium für urban gestresste Menschen“ eingerichtet haben.

Dort nämlich ist Harald Finke im Rahmen des Aktuelle-Musik-Festivals „Blurred Edges“ mit ein paar seiner floralen Künstler-Kolleginnen zu Gast und führt im verwilderten Garten in die Pflanzenkunst ein. Wetten, dass man danach einen anderen Blick und ein neues Gehör für die Umwelt bekommt?

Denn genau darum geht es bei „Blurred Edges“, das von Freitag bis zum 19. Juni zum elften Mal an 33 Orten in der ganzen Stadt mit Konzerten, Lesungen, Filmen und Ausstellungen analoge, elektroakustische und elektronische, komponierte und improvisierte experimentelle Musik und Klangkunst präsentiert.

Initiiert vom Verband für aktuelle Musik Hamburg (VAMH), um die Einkapselung der lokalen Szene für experimentelle Musik aufzubrechen und auch nach außen mit „unscharfen Rändern“ zu versehen, ist das Festival bis heute auch ein ausdrücklich politisches Statement. Nicht nur gegen eine Kulturpolitik der Stadt, die aktuelle Musik weiterhin stiefmütterlich behandelt, sondern auch für einen anderen Blick auf und ein anderes Gehör für die Welt und die in ihr liegenden Möglichkeiten.

Wenn der konventionelle Klang von Instrumenten gebrochen wird, indem man sie präpariert; wenn mit erweiterten, ungewöhnlichen Techniken neue Geräuschpotenziale erschlossen werden; wenn Alltagsgegenstände oder Pflanzen zu Instrumenten werden, dann dokumentiert das auch einen durchaus kritisch gemeinten anderen Umgang mit Genres und ihren Grenzen, mit Musik und ihren Mitteln.

Der politische Anspruch schlägt sich auch in der Struktur des Festivals nieder: Eine künstlerische Leitung gibt es bis heute nicht, stattdessen kuratieren die Künstler und Veranstaltungsorte ihr Festival basisdemokratisch selbst. Nur Koordination und Organisation übernimmt der VAMH. Es ist ein Produzentenfestival, das von programmatischen Widersprüchen und der Vielfalt der Positionen lebt und so auch für die Veranstalter selbst für Überraschungen sorgt.

Was zum Beispiel ist bloß diese „Tonbandgitarre“, die Klaas Hübner am kommenden Sonntag in der Astra-Stube spielen werden? Wie klingt es, wenn Antez am 11. Juni in der Hörbar Schlaginstrumente mal reibt und streichelt? Und wie wirken sich unsichtbare Schwingungen auf die Psyche aus, wie es Felix Kubin in seinem Live-Hörspiel „Paralektronoia“ im historischen Sektionssaal des UKE untersucht? Klar ist nur: Eingefahrene Denkprozesse werden übertönt und Synapsen frei für neue Verbindungen.

Fr, 3. Juni, bis So, 19. Juni, diverse Orte. Infos und Programm: www.blurrededges.de