„Kein Gottesurteil“

Die Volksabstimmung zu S 21 ist kein Gottesurteil. Der Rechtsexperte Professor Joachim Wieland erklärt im Kontext-Interview, warum Ministerpräsident Winfried Kretschmann jetzt frei ist, den Vertrag mit der Bahn zu kündigen

von Hermann G. Abmayr (Interview)

Herr Wieland, was bedeutet die Kostensteigerung bei Stuttgart 21 für die Volksabstimmung von 2011?

Das Volk hat abgestimmt vor der Information, dass sich der Höchstbetrag innerhalb der Grenze von 4,5 Milliarden Euro halten würde. Nachdem sich erwiesen hat, dass diese Grenze jetzt um einen erheblichen Milliardenbetrag überstiegen wird, ist die Volksabstimmung nicht mehr verbindlich.

Ist die Landesregierung damit in ihrem Handeln frei?

Die Regierung Kretschmann ist in der neuen Situation nicht mehr an die Volksabstimmung gebunden. Sie ist frei, nun entweder nach Gesprächen mit der Bahn zu sagen, sie wird nicht mehr Geld für das Bahnhofsprojekt aufwenden, oder sich zu entschließen, doch mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Sie kann auch noch einmal das Volk um eine Entscheidung bitten.

Oder den Vertrag mit der Bahn kündigen.

Wenn man in solchen Fällen eine Kündigung nicht erlauben würde, dann kann eine Mehrheit, die einmal an der Macht ist, langfristige Verträge ohne Kündigungsrecht abschließen, an die man auf Dauer gebunden wäre. Das ist demokratietheoretisch höchst zweifelhaft.

Der Vertrag mit der Deutschen Bahn sieht aber ein Kündigungsrecht nicht vor.

Man musste deshalb auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz zurückgreifen. Der lautet: Entscheidungen werden nur für die gegebenen Umstände getroffen. Wenn sich die Umstände wesentlich ändern, dann kann man Entscheidungen oder Verträge aufheben oder kündigen. Wenn beispielsweise bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit gesagt hätte, wir wollen das nicht mehr finanzieren, wäre das eine solche Veränderung gewesen. Und jetzt haben wir die Kostenexplosion.

Auch der Gotthardtunnel, über den das Volk im Gegensatz zu Stuttgart 21 frühzeitig abstimmen konnte, wurde viel teurer. Dann kam es zu einer zweiten Volksabstimmung: Die Mehrheit erklärte erneut, sie wolle den 58 Kilometer langen Bau. Was kann Deutschland in Sachen Volksabstimmung von der Schweiz lernen?

Wir haben erste Versuche unternommen und müssen uns jetzt klarmachen, was es bedeutet, wenn sich tatsächliche Gegebenheiten, die einer Volksabstimmung zugrunde lagen, auf einmal ändern. In der Schweiz geht man damit viel selbstverständlicher um. Dort ist es klar, dass bei einer Änderung der Umstände die alte Volksabstimmung nicht mehr bindet, dass man dann eine neue machen kann. In Deutschland gilt grundsätzlich das Gleiche. Dann kann entweder das Parlament entscheiden, oder man kann das Volk noch einmal vor dem Hintergrund der neuen Entwicklungen befragen.

Eigentlich wollten die Stuttgarter darüber abstimmen, ob ein unterirdischer achtgleisiger Durchgangsbahnhof gebaut oder ob der oberirdische Kopfbahnhof ausgebaut wird. Als dann Heiner Geißler und die Firma SMA vorgeschlagen haben, nur den Fernverkehr zu verlegen und den Nah- und Regionalverkehr oben zu belassen und die Verkehrsplaner Vieregg und Rössler ein weiteres Kombimodell entwickelt hatten, hätte man auch darüber abstimmen können. Warum ging das nicht?

Weil für den Bereich der Deutschen Bahn der Bund zuständig ist. Ein einzelnes Bundesland, auch wenn es betroffen ist, kann dazu keine Volksabstimmung abhalten. Und auf Bundesebene gibt es keine Volksabstimmung. Deshalb konnte nur über den Finanzierungsanteil Baden-Württembergs an Stuttgart 21 abgestimmt werden.

Die Volksabstimmung in Baden-Württemberg litt auch unter dem hohen Zustimmungsquorum. Ein Drittel aller Wahlberechtigten ist laut Landesverfassung erforderlich. Weder die Befürworter noch die Gegner von Stuttgart 21 hatten so viele Stimmen. In Bayern oder der Schweiz gibt es so etwas gar nicht.

Die baden-württembergische Regelung entstammt noch der alten Vorstellung, die vielleicht bis vor 20 Jahren in Deutschland vorherrschend war: die Lehre aus der Weimarer Republik, dass man das Volk möglichst nicht abstimmen lassen dürfe. Das ist inzwischen zu Recht sehr umstritten. Man hat die Hürden früher deshalb so hoch gesetzt, damit sie angesichts der Wahlbeteiligung in der Praxis nicht erreichbar ist. Damit konnte eine Volksabstimmung nie zu einem verbindlichen Ergebnis mit entsprechenden Rechtsfolgen führen.

Joachim Wieland ist Professor für öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Speyer. Er und sein Kollege Georg Hermes von der Goethe-Universität in Frankfurt gelten als die Väter der Volksabstimmung zu Stuttgart 21. Die beiden haben 2010 im Auftrag der SPD-Landtagsfraktion dazu ein Gutachten erstellt.