Vom Schatten ins Licht

Rund 180 Bibliotheken öffnen nächste Woche auch nach Feierabend – zur ersten „Nacht der Bibliotheken“ in NRW. In manchen Städten beginnt die Nacht allerdings schon nachmittags

VON BORIS R. ROSENKRANZ

Mal angenommen, man läse ein Buch pro Woche, und zwar ausnahmslos jede Woche, und man würde, sagen wir mal: 80 Jahre alt, dann könnte man sich in einem Leben, die ersten sechs analphabetischen Jahre abgezogen, rund 3.500 Bücher einverleiben. Führt man nun diesen Gedanken in eine Bibliothek aus, blickt in die Regalschluchten voller Goethe und Schiller, kann einem nur angst und bange werden. 3.500 Bücher. Allein in der Universitätsbibliothek Bochum stehen rund zwei Millionen! Und in der französischen Nationalbibliothek in Paris sind es gar sechs Millionen! Verzweiflung.

Wie viele Bücher die 180 Büchereien in ihrem Bestand führen, die in der kommenden Woche zur „Nacht der Bibliotheken“ einladen, wagt man gar nicht auszurechnen. Aber in dieser Nacht geht es auch nicht darum, möglichst viele Bücher zu verschlingen. Vielmehr geht es dem Verband der Bibliotheken des Landes NRW (vbnw) darum, „Licht in den Schatten“ zu bringen. Mit Schatten sind hier die großen Kulturevents gemeint, die regelmäßig tausende Menschen anlocken. Aus diesem Schatten wolle man heraustreten, teilte der vbnw vergangene Woche mit. Und was wäre da besser geeignet, als selbst ein Kulturevent zu veranstalten. Als Vorbild diente die „Nacht der Museen“, die jedes Jahr zehntausende Kunstbegeisterte zu Nachtschwärmern werden lässt.

Dass die „Nacht der Bibliotheken“, beispielsweise im westfälischen Altena, zuweilen bereits um 15 Uhr beginnt, muss da nicht weiter verwundern – der Weltjugendtag der Katholiken dauert schließlich auch fast eine Woche. Den ganzen Tag über werden die Büchereien, eigentlich ein Ort der stummen Lektüre („Seid ihr jetzt bitte mal leise!“), zu Orten, die sich am Halligalli großer Feste orientieren. Dabei steht vielerorts die klassische Dichter-Lesung auf dem Programm, aber auch Theater-Aufführungen sind geplant, kleine Konzerte, Ausstellungen, Workshops. Dabei dreht sich das meiste freilich ums Buch. Und zwar nicht nur um das fertige Produkt, sondern auch um dessen Entstehung: von der ersten Idee über die Niederschrift, den Druck, bis hin zur Verschiffung in die Buchläden. Nicht alles, was angeboten wird, ist dem Anspruch nach große Kultur. Wird aber trotzdem etliche Menschen, die dem Buch an sich nicht so zugetan sind, veranlassen, mal wieder die heiligen Hallen zu betreten.

Dass es sich bei dem Projekt, das erstmals in NRW über die Bühne geht, um eine öffentlichkeitswirksame Form der Nutzerwerbung handle, streitet der vbnw vehement ab. Keinesfalls sei das so, die Menschen kämen seit Jahren in die Büchereien, mit steigender Tendenz. Allein zwischen Rhein und Weser zähle man jährlich 26 Millionen Benutzer. Und doch ist die Bibliothek ein Ort, der Bibliophile gleichermaßen anzieht und beängstigt (siehe oben). Wer eine Uni-Bibliothek besucht, stößt mit Sicherheit auf einige Studenten, die – den Kopf auf Kindlers Literaturlexikon gebettet – vom bestandenen Examen träumen. Bücher strengen eben an. Wenn man sie liest, weil man sie lesen muss. Sonst natürlich nicht.

Übrigens: Viele Büchereien bieten eine Nachtausleihe an. Wenn ein paar Tausend Menschen kommen, sich mehrere Bücher mitnehmen, sie lesen und den anderen davon erzählen, klappt es vielleicht doch noch, sich mehr als den Inhalt von 3.500 Büchern anzueignen.

„Nacht der Bibliotheken“28. Oktober, in 180 Städten in NRWInfos: 0221-4702260www.nachtderbibliotheken.de