„Da gibt es keinen rationalen Hintergrund“

Grafing Dass der mutmaßliche Täter „Allahu Akbar“ rief, ist Zufall, meint Kriminologin Bannenberg

Britta Bannenberg

Foto: Uni Gießen

52, ist Juristin und Professorin für Kriminologie an der Universität Gießen. Sie leitet das Projekt „Target – Tat- und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt“ zu Amoktaten, das vom Bundesforschungsministerium finanziert wird.

taz: Frau Bannenberg, Sie erforschen Amoktaten, also Mehrfachtötungen, im öffentlichen Raum. Der mutmaßliche Täter von Grafing hat laut Zeugenaussagen „Allahu Akbar“ und „Ihr Ungläubigen, ihr müsst sterben“ gerufen, die Polizei in seinem Leben bislang aber keinen Zusammenhang zum Islam oder gar zum Islamismus gefunden. Überrascht Sie das?

Britta Bannenberg: Nein. Ich kenne den aktuellen Fall zwar nur aus den Medien, aber wenn es ist wie geschildert und der Täter paranoid-schizophren ist, wie es zu sein scheint, dann ist das nicht ungewöhnlich. Paranoid-schizophrene Menschen, die Gewalttaten ausüben, nehmen oft willkürlich Dinge auf und bauen sie in ihren Wahn ein. Da gibt es dann keinen rationalen Hintergrund.

Kann das auch eine Ideologie wie der Islamismus sein, auch wenn die bis dahin in dem Leben dieses Menschen gar keine Rolle gespielt hat?

Ja, das kann sein. Die Tat muss keine Terrorkomponente haben, auch wenn es erst mal so aussieht. Wenn hier eine paranoide Schizophrenie vorliegt, dann ist sie höchstwahrscheinlich die alleinige Grundlage dieser Gewalttat. Alles andere ist mehr oder weniger Zufall. Es kann sein, dass der Mensch sich von Zombies oder Werwölfen bedroht fühlt, von einem Verwandten, der gar nichts Böses von ihm will, oder dass er meint, er muss gegen Ungläubige vorgehen. Das kann man nicht rational herleiten, bestimmt das Denken dieses Menschen aber extrem. Das macht sie ja so gefährlich.

Werden Menschen mit dieser Erkrankung häufiger Täter als andere?

Ja. Nach der Forschung ist die Gefahr, dass ein paranoid-schizophrener Mensch eine Gewalttat ausübt, sieben- bis achtmal höher als bei anderen.

Könnte es im Falle von Grafing eine Rolle spielen, dass das Thema islamistischer Terrorismus derzeit in der Öffentlichkeit so präsent ist?

Das kann sein. Manches ist auch aus der Lebensgeschichte der Täter ableitbar, aber es ist einfach sehr viel Zufall dabei. Es gibt grob gesagt zwei Komponenten: Entweder der Täter fühlt sich persönlich wahnhaft bedroht und wehrt sich deshalb. Oder er glaubt, er müsse die Welt retten, und dies rechtfertige eine Gewalttat. Da kann er aktuelle Themen aufnehmen.

Gibt es vergleichbare Fälle?

Ja, selbstverständlich. Bei Amoktaten ist ein Drittel der erwachsenen Täter paranoid-schizophren. Ein weiteres Drittel hat Persönlichkeitsstörungen, aber keine schlimme Erkrankung. Der Rest ist heterogen. Bei den Paranoid-Schizophrenen ist es recht typisch, dass sie gesellschaftliche Geschehnisse aufgreifen. Oft fühlen sie sich vom Staat bespitzelt und verfolgt, obwohl das nicht der Fall ist. Es gibt Fälle, bei denen das in den Rechtsextremismus geht und jemand gegen ein Flüchtlingsheim vorgeht, weil er sich als neuer rechter Rächer fühlt. Das ist ein paranoid-schizophrener Wahn, der nicht darin begründet ist, dass die Täter im rationalen Sinn dieser Ideologie anhängen.

Der mutmaßliche Täter von Grafing hat wahrscheinlich Drogen konsumiert. Welche Rolle spielen Drogen bei solchen Taten?

Es gibt Psychosen, die durch Cannabis und andere Drogen ausgelöst werden. Und wenn man an einer solchen Erkrankung leidet, kann sie durch Drogen verstärkt werden.

Wie viele solcher Amoktaten gab es in der Bundesrepublik bislang?

Wenige, und glücklicherweise wurden nicht bei allen Menschen getötet. Wir haben etwa 40 Fälle von Erwachsenen untersucht, die meisten nach 1990, und bei den jungen Tätern sind es 30 Fälle. Das ist fast eine Voll­erhebung. Aber darunter sind die Amokläufe von Erfurt und Winnenden mit vielen Opfern und riesigen Folgewirkungen.

Interview Sabine am Orde