heute in bremen
: „Gegen das System“

SOLI-AKTION Der Leiter des Institut français erklärt die Bewegung „Nuit Debout“ in Frankreich

Philippe Wellnitz

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55, leitet seit 2014 das Institut françaisin Bremen. Zuvor lehrte er unter anderem Germanistik an der Universität Montpellier.

taz: Herr Wellnitz, am Sonntag planen Unbekannte eine Solidaritäts-Aktionen mit der „Nuit Debout“-Bewegung aus Frankreich. Auf was wird sich bezogen?

Philippe Wellnitz: Angefangen hat „Nuit Debout“ am 31. März mit einer Großdemonstration in Paris gegen das neue Arbeitsrecht. Die Organisatoren beschlossen, nach der Demo auf dem Place da la Republique zu bleiben. Seitdem versammeln sich die Menschen jeden Abend um 18 Uhr und bleiben meist bis Mitternacht.

Was passiert da?

Es wird über die verschiedensten Dinge debattiert. Sie stehen keiner Partei nah, keiner Gewerkschaft und sind auch nicht regierungskritisch im Sinne der Kommunistischen Partei.

Wie würden Sie „Nuit Debout“ dann politisch einordnen?

Es ist eine linke Bewegung. Sie haben einen eigenen Kalender, indem sie den März, in dem Sie entstanden, weiterzählen – das könnte man als eine Anspielung auf den revolutionären Kalender verstehen. Auch gibt es Ähnlichkeiten mit den Indignados …

… den „Empörten“, aus denen in Spanien die Podemos-Partei entstanden ist?

Genau. Aber die Beteiligten von „Nuit Debout“ wollen sich nicht zur Wahl stellen. Sondern sie treten für ein anderes Politikverständnis ein, im Sinne anderer Regeln und Beziehungen im Alltäglichen.

Also für eine Art Erneuerung der Demokratie?

… in einem alte Sinne: als Debatte in einem Forum. Sie glauben, dass das politische System, so wie es ist, keine Antworten auf ihre Fragen gibt. „Nuit Debout“ hat neue Verkehrsformen entwickelt, etwa eine Abstimmung mit den Händen. Diese neue Form birgt auch soziale Probleme. Es sind keine Arbeiter dabei, sondern eher Bildungsbürger und Studenten. Aber im Mai 1968 hat es in Frankreich genauso angefangen.

Welche Bedeutung messen Sie der „Nuit-Debout“-Bewegung zu?

Mittlerweile finden in über 100 Städten Frankreichs Treffen statt und in zwanzig Städten Europas. Die Regierung betrachtet es mit kritischer Aufmerksamkeit, die Opposition, also die christlich-demokratischen Parteien und die Rechtsextremen halten es für Aufruhr.

Die französische Regierung hat die umstrittene Arbeitsrechts-Reform durchgesetzt. Ist nun alles vorbei?

Die Regierung hat ihr Schicksal an die Annahme des Gesetzes gebunden und gleichzeitig ein Misstrauensvotum überstanden. Der Protest aber ist nicht vorbei, im Gegenteil.

Kann man „Nuit Debout“ als Gegenbewegung zum Rechtspopulismus verstehen?

Persönlich bin ich der Meinung, dass beide Phänomene die gleichen Ursachen haben: Beides entspringt einem Unbehagen gegenüber dem System. Der Front National ist ja nicht nur eine rechtsextreme Partei, sondern kritisiert auch das bestehende politische System. Allerdings ist „Nuit Debout“ viel intellektueller. Interview:jpb

Aktionstag in Bremen. So, 10 Uhr, Marktplatz