Im Restaurant Tadim Lahmacun gibt’s türkische Küche seit 1997 – an Wochenenden bis nachts um 3 Uhr

Ein Ort von Schwarz zu Blau

Gefahrenpotenzial Das Kottbusser Tor ist schon lange Treffpunkt für Junkies und Dealer, nun eskalieren laut Polizei und Medien Kriminalität und Gewalt. Grund genug für die taz, in vier Schichten ganze 24 Stunden an einem urbanen, wilden Lieblingsort zu verbringen, der angeblich zu kippen droht

„Stapf durch die Kotze am Kotti“, singt Peter Fox in seinem Berlinsong „Schwarz zu Blau“

Auf der Terrasse des Südblocks – einer queeren Institution – trifft sich ganz Kreuzberg

Seit zwei, drei Wochen ist es „wieder etwas besser geworden“ – wegen der Polizei, die jetzt abends präsenter ist

Von Susanne Messmer, Marisa Janson, Claudius Prößer
und Erik Peter,
Fotos Christian Jungeblodt

9 bis 15 Uhr

Ankunft am Kottbusser Tor, der Tag beginnt, die Sonne lacht. Die Gemüsestände sind schon aufgebaut, an einem gibt es Orangensaft für einen Euro. Um diese Zeit wirkt am Kotti alles frisch: Was für ein schöner Ort. Erst mal frühstücken.

Das Backhaus Simitdchi gehört am Vormittag türkischen Familien und müdem Ausgehvolk. Eine Frau mit Tätowierungen im Dekolleté bestellt ihren Kaffee auf Deutsch und redet mit ihrem Sohn Türkisch. Gegenüber sitzt ein Paar um die dreißig. Sie werfen sich manchmal Satzfetzen zu, lächeln versonnen. Sein halblanges Haar ist noch nass vom Duschen. Er löffelt den Tee sehr bedächtig.

Ein Mann um die sechzig mit Glatze fährt in einem Audi vorbei, Ellbogen aus dem Fenster, Musik voll aufgedreht, ein Song von Sezen Aksu. Ein Mann um die sechzig mit Resten eines Irokesenschnitts fährt mit einem Lastenrad vorbei und singt: „Genosse Tod hat sie geholt!“

Ist das der Ort, wo in letzter Zeit zunehmend junge Frauen angetanzt wurden, Menschen geschlagen und ausgeraubt? Zu krass für Kreuzberg, wie der Tagesspiegel meinte? Platz der Verdammten, wie der Spiegel fand? Zumindest an diesem Morgen wirkt der Kotti eher wie eine wilde, urbane Utopie – wie ein Ort, an dem sich jeder mit jedem arrangieren kann.

„Abends muss man schon mehr aufpassen als früher“, erzählt ein Abräumer im Simitdchi. „Aber wir kommen zurecht.“ Angeblich gibt es hier Gewerbetreibende, die Telefonketten bilden, die Spaziergänge unternehmen, die sogar über eine Bürgerwehr nachdenken und schimpfen, dass hier Diebe unterwegs sind, denen zu Hause die Hand abgehackt würde? „Ach was“, winkt er ab. „Bei uns gibt es Hausverbote, das reicht.“

Im Südblock frühstücken zwei Jungs und zwei Mädchen, sie wirken mit ihrem festen Schuhwerk wie Roadies. Auf einer Betonbank unterm Baum treffen sich ein Mann und eine Frau um die siebzig. Sie befiehlt ihrem dicken Hund: „Nu pinkel doch ma!“ Der Mann lacht. „So was kann man doch nicht erzwingen, Helga!“ Im Gespräch kommt raus, dass die beiden Nachbarn sind und sich nach dem Aufstehen von Fenster zu Fenster zuwinken. Aber nun will er weiter, sein Hackenporsche steckt voller Leergut, dass zum Kaiser’s muss. „Schüs, mein Süßa“, sagt sie und gibt ihm einen lauten Kuss auf die Wange. Ja, die Architektur am Kotti ist menschenfeindlich, höchstens autofreundlich. Trotzdem setzen sich die Leute hier zusammen. Es wird vereinnahmt, was halt da ist.

Am Kaiser’s hängen Gestalten herum, wie sie hier schon seit Jahrzehnten herumhängen. Ein blasser Junge mit Rastas sitzt in sich zusammengesunken am Gitter zum U-Bahn-Eingang. Eine Frau um die sechzig, die Basecap tief im Gesicht, setzt sich in den Fotoautomaten am Kaiser’s und zieht den Vorhang so weit zu, wie es geht. Sie zündet sich eine Metallpfeife an.

Im Neuen Kreuzberger Zentrum befindet sich die türkische Buchhandlung „Regenbogen“. Heute ist Geschäftsführer Sinan Simsek nicht da, der der Süddeutschen gesagt hat, Kreuzberg sei ihm zu gewalttätig geworden. Heute sitzt hier Buchhändler Okan Yilmaz, der den Kotti mal gefilmt hat, von oben, 24 Stunden lang. Er ist fasziniert von diesem Ort, wie viele verschiedene Menschen hier manchmal besser und manchmal schlechter miteinander auskommen. „Seit zwei, drei Wochen ist es mal wieder etwas besser geworden“, sagt er. Wegen der Polizei, die jetzt abends präsenter ist, auch wegen der Security, die seit Kurzem rund ums Neue Kreuzberger Zentrum unterwegs sind.

Der Kotti ist ein toller Ort, meint er. Er wird auch diese Krise überstehen.

15 bis 21 Uhr

Kräftig gebräunt von Sonne und politischer Gesinnung, beobachtet ein Mann im Rollstuhl etwa zwei Dutzend Menschen, die hinter den Gemüseständen offensichtlich ihren Drogengeschäften nachgehen. Der Einbeinige trägt Glatze, Thor-Steinar-Bekleidung und wie zur Klischee-Erfüllung ein Bier in der rechten Hand. Er wird, wohl zu seinem Glück, nicht beachtet, obwohl er zu den wenigen gehört, die sich so eindeutig verorten lassen.

Kopftuchtragende Hipster, lesbische Pärchen wie vom Laufsteg, Großeltern mit Tattoos, junge Geschäftsfrauen und viele Menschen mehr aller Kleidungsstile, Altersstufen, Geschlechter und Hautfarben gestalten jede Momentaufnahme des Kottis zu einem Bild, als hätte es ein Profi für ein Lehrbuch der Diversity-Correctness gestaltet. Auf den Bierbänken des Südblocks, einer queeren Location, lassen sich gut gelaunte Leute ihre Getränke bringen. Gegenüber vor dem Gecekondu kommt man, auch ohne Geld auszugeben, ins Plaudern. Der öffentliche Raum wird selbstständig genutzt und jeder kann dabei sein.

Wie das schwäbisches Touristenpaar mittleren Alters zum Beispiel – von einem gefährlichen Kotti hat es noch nichts gehört, nur von den Drogenverkäufen auf dem Platz. „Aber das Problem wird man hier vor Ort nicht lösen. Drogengeschäfte in Deutschland haben gefestigte Strukturen“, meint der Mann.

Was Diebstähle betrifft, sei es unsicherer gewesen, bevor die Securitys aufgepasst habe, erzählt einer der ehemaligen O-Platz-Aktivisten, der auf dem Weg zur Fußballkneipe ist. „Es ist schon gut, dass die da sind.“

In den Cafés bieten sich während des Tages viele Szenen des Vertrauens: Menschen, die Tabak, Rucksäcke und sogar Kleingeld auf den Tischen liegen lassen, wenn sie auf Toilette gehen. „Man passt hier aufeinander auf“, erklärt ein Tischnachbar.

Im erholsamen Schatten vor dem Café Kotti sitzen drei Männer – sie unterhalten sich auf Türkisch. Zwischendrin blitzt das Wort „Babypause“ auf. Wie aufs Stichwort kommt ein Mädchen die Treppen hoch, sieht die Eiswürfel in den Getränken und verlangt nach einem. Mit Freuden lutscht sie daran und begrüßt die Erwachsenen um sich herum. Ihr Vater redet mit ihr auf Deutsch. Gemeinsam rufen sie die Mutter an und plötzlich spricht die Kleine Französisch. Sie wohnen um die Ecke und sind häufig hier. „Die Kriminalität auf dem Kotti wird instrumentalisiert“, meint der Vater.

Ein weiterer Gast türkischer Abstammung bestätigt das. „Ich werde oft behandelt, als wäre ich das Problem. Durch die undifferenzierte Berichterstattung werden einfach nur die Rassismen der Leute gestärkt.“

Ein Feuerzeugverkäufer steht mit seiner Ware vor den Tischen. Er will Feierabend machen und eine junge Gästin mit den Restposten beschenken. Sofort steht ein Kellner hinter ihm und passt auf, dass er sie nicht belästigt. Doch die Frau freut sich, unterhält sich kurz mit dem Verkäufer. Er erzählt ihr frei, dass er lieber nicht zu viel arbeitet. „Sonst kaufe ich mir nur mehr Gras, das ist ja auch nicht gut.“

21 bis 3 Uhr

Ab Einbruch der Dunkelheit gehört der Kotti den Männern. Nebenan in der Dresdener oder auf der Oranienstraße ist davon schon nicht mehr viel zu spüren, aber zwischen der Skalitzer Straße mit dem U-Bahnhof und dem Kreuzberg-Museum in der Adalbertstraße regiert das Testosteron. Es wird laut gesprochen, herumstolziert, geschrien, es werden Muskeln gezeigt und potente schwarze Autos spazieren gefahren. Der Strom der Partygänger und Touristen fließt davon relativ unbehelligt in beide Richtungen weiter, aber viele legen eher einen Schritt zu.

Vor dem Kaiser’s-Supermarkt sitzt ein halbes Dutzend abgerissener Gestalten mit Bierflaschen, zwei von ihnen brüllen sich an, Glas zersplittert auf dem Gehweg, ein dritter schlichtet, die anderen sitzen teilnahmslos daneben. Wenig später gibt es Zoff auf den Stufen gegenüber der Bezirksbibliothek, ein aufgebrachter Hüne verfolgt einen schmächtigen Mann, eine zum Schlagobjekt umgedrehte leere Flasche in der erhobenen Hand. Ein Freund redet auf ihn ein und zieht ihn zurück. Worum es bei den Streitigkeiten geht, erschließt sich den meisten Beobachtern nicht, sie werden zum Teil in Sprachen ausgetragen, die selbst in Kreuzberg exotisch klingen.

Eine Frau ist dann doch sehr präsent: eine Polizistin mit dunkelblondem Pferdeschwanz. Sie sitzt lässig in der offenen Schiebetür eines Einsatzwagens, der direkt vor den Stufen parkt, auf denen eben noch ein paar Dealer ihren Geschäften nachgegangen sind. Fast drei Stunden lang wird sie da so sitzen, während sich zehn weitere Ordnungshüter, einige davon in gelben Warnwesten, im Gelände verteilen. Wie der Einsatz hier so läuft? „Oh, das macht richtig Spaß hier“, sagt sie sarkastisch, verweist dann aber an einen höheren Dienstgrad in einiger Entfernung.

Der meint, die Polizei zeige schon seit Wochen verstärkt Präsenz, vor allem an den Wochenenden. „Solange wir hier stehen, ereignen sich kaum Straftaten“, sagt er, „gerade die Gelegenheitsdiebe wissen genau, dass wir schnell da sind, wenn etwas passiert.“ Dann empfiehlt er zwei jungen Frauen, die vorbeigehen, ihre Taschen besser vor dem Bauch zu tragen als auf dem Rücken.

Eine schicke türkeistämmige Frau Anfang dreißig, die im Café Kremanski am Durchgang zur Dresdener Straße sitzt, überlegt kurz auf die Frage, ob sich die Situation am Kotti verschärft hat. „Eigentlich war es hier nicht viel anders, als ich noch in die Schule gegangen bin“, meint sie. „Dann fing so vor zehn Jahren eine Phase an, in der man sich richtig sicher gefühlt hat. Und das hört jetzt wieder auf.“ Ein Problem, hier auszugehen, hat sie deshalb noch lange nicht. Sie komme weiterhin gerne her.

Im Durchgang zur Adalbertstraße hocken zwei mittelalte Männer und saufen. Der gesprächigere von beiden erklärt in klobigem Englisch: „When I’m 16, I have three beers or three vodka, and bye-bye! Now look at me, how much I can drink!“

3 bis 9 Uhr

„Scheiße, er stirbt gleich“, schallt es über den Bahnsteig der U8. Ein Passant brüllt seine Angst in die Notrufsäule. Am Fuß der Treppe liegt ein junger Mann bewusstlos in einer Blutlache. Über ihm kniet eine Frau, die ihn abwechselnd beatmet und ihm auf den Brustkorb stößt. Sekunden vergehen. Nach fast zwei Minuten kommt der Verletzte zu sich, springt plötzlich hoch und läuft auf und ab. In diesem Moment erreichen die ersten Polizisten den Bahnsteig. Sie versuchen den am Kopf blutenden Mann zu beruhigen, wenden sich aber gleich darauf einem Jugendlichen zu, der sie bedrängt. Zu viert ringen die Beamten ihn zu Boden, legen ihm Handschellen an. „Ich fick’ euch alle, ihr Bastarde“, ruft ein zweiter, ehe auch er festgenommen wird. Der Verletzte wird von zwei Notfallsanitätern versorgt.

Die Lebensretterin, eine Französin mit Afro, steht weinend neben dem Rettungswagen. Inmitten einer Menschentraube versuchen Polizisten herauszufinden, was passierte. Ist der Mann die Treppe heruntergestoßen worden oder nur gestürzt? „Wir haben Videokameras da unten“, sagt ein Beamter.

Im Kreuzberger Neuen Zentrum leuchten nur noch eine Handvoll Lichter. Im Möbel-Olfe trinken die letzten Gäste ihre Biere aus, während bereits die Barhocker auf die Tische gestellt werden. Aus dem Club Monarch schräg über dem Kaiser’s dringt noch ein dumpfer Bass, doch die schwere Eingangstür bleibt verschlossen. Der Kotti schläft nie? Doch, um kurz vor vier tut er’s.

Ein letzter Zufluchtsort ist dagegen Pawlows Whiskey-Klub in der Dresdner Straße. Der kanadische Inhaber öffnet die kaputte und mit einem Holzbrett gestützte Glastür und führt hinein in den heimeligen Laden, so klein wie eine Teeküche. Der Whiskey Sour wird mit den düsteren Erzählungen des Barkeepers gemixt: Vor einer Woche hätten vier „Migranten“ Stress gemacht, dabei sei auch die Tür kaputt gegangen. Es folgt eine Diskussion über Flüchtlinge, die die Gewalt an den Kotti gebracht hätten. „Wer eingeladen wird, muss sich doch auch benehmen“, sagt er im besten AfD-Jargon.

Die ersten Sonnenstrahlen tauchen den Kotti in ein mildes Licht. Auf einem Bürgersteig sitzen drei Männer, einer schiebt sich mit einer Kreditkarte eine Line Speed auf seinem Smartphone zurecht.

Die Berliner Stadtreinigung hat ihre Tour über den Platz beendet. „Jetzt isset für fünf Minuten sauber“, berlinert einer der Müllmänner, „sogar den Bordstein sieht man wieder.“

Der Bierverkauf im Späti in der Adalbertstraße läuft. Hinter dem Tresen steht Zeki Nurçin, ein Kurde, der in dem Shop auch seine Romane verkauft. 20 hat er bereits geschrieben, erzählt er. Mit sanfter Stimme beschwert sich Nurçin über die „Leute aus Nordafrika“, mit denen es häufig Stress gebe. „Die sind eine Woche hier, und schon verkaufen sie Haschisch.“

Die Eingangstür zu einem Wohnhaus in der Skalitzer Straße wird abgeschlossen. Nein, es sei nicht möglich, auf das Dach zu gehen, hatte der Anwohner gesagt. Auch ein weiterer Nachbar kennt kein Erbarmen; die Angst vor Einbrüchen hier ist groß. Das Haus gegenüber, hinter dem Südblock, in dem bereits die Frühstücksvorbereitungen laufen, ist dagegen offen. Von einem Balkon in der obersten Etage sieht man den Kotti langsam zum Leben erwachen. Die U-Bahnen der Linie 1 fahren wieder im engen Takt. Die Sonne strahlt. Was für ein schöner Ort.