Täterkinder Die Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme organisiert Gesprächsseminare nicht nur für die Nachkommen von Opfern der Nazizeit, sondern auch für die Nachkommen von Tätern. Der Zuspruch ist groß, denn die Taten lasten auf Kindern und Enkeln ▶ Schwerpunkt SEITE 43–45
: Schatten der Vergangenheit

Eine ganz normale Familie: Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß mit Frau und Kindern im Garten seiner Kommandantenvilla, direkt neben dem Konzentrationslager Foto: Rainer Höß/IfZ München-Berlin

Von Petra Schellen

Es kann keine stellvertretende Versöhnung der Kinder und Enkel geben.“ Mit klaren Worten markiert Oliver von Wrochem, Studienleiter der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme, die Grenze des Dialogs zwischen den Nachkommen von Nazi-Tätern und -Opfern. Denn so sehr sich viele eine Bereinigung wünschen: Vergeben könnten nur die Opfer, und die sind meist schon tot. Und die wenigen Täter, die vor Gericht gestellt wurden, bereuten nicht. Sondern logen sich durch die Entnazifizierungsverfahren, ließen die verräterischen SS-Blutgruppentätowierungen entfernen und waren nach Ende des Zweiten Weltkriegs keineswegs gebrochene Leute.

Vielmehr machten sie Karriere und hüllten sich – wie viele Opfer – in Schweigen. Doch während die geschockten Shoah-Überlebenden oft nicht reden konnten, wollten die Täter es nicht. Allenfalls räumten sie ein, dass sie halb-bewusst und also halb-verantwortlich an Ausgrenzung und Massenmorden teilgenommen hatten. Außerdem aus einem – inzwischen großteils widerlegten – „Befehlsnotstand“ heraus.

Diesen Reinwaschungs-Duktus spiegeln auch die Akten aus den NS-Prozessen, die die Täternnachkommen mit in die Seminare der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bringen. Diese halbjährlichen Workshops, in denen viele erstmals über ihre Familiengeschichte sprechen, haben sich peu à peu aus Rechercheseminaren für Täter- und Opfernachkommen entwickelt. Doch während es in den Seminaren der Opfernachkommen durchaus emotional zugehen kann, passiert das bei den Täternachkommen kaum. Ihr Problem ist eher das Erbe einer „abgewehrten, nicht bereuten Schuld“, wie es Ulrich Gantz formuliert, dessen Vater 1941 an Massenerschießungen in Russland beteiligt war.

Mentale Überlebensstrategien

Er erfuhr das, wie die meisten, nach dem Tod des Vaters und sucht seither mentale Überlebensstrategien: Wie verkraften, dass der Vater Verbrechen beging und das nach 1945 bestritt? Wie andererseits ertragen, dass man selbst oft nicht genau fragte?

Denn auch das bringen die Seminare mit sich, an denen inzwischen 600 Menschen aus ganz Deutschland teilnahmen: Viele müssen ihr Selbstbild korrigieren. Nicht nur Barbara Brix – Tochter eines Arztes der mit Massenerschießungen betrauten „Einsatzgruppen“ – musste ernüchtert feststellen, dass sie die Chance zu fragen seinerzeit nicht nutzte (siehe Interview SEITE 43).

Überhaupt haben, wie Historiker heute wissen, viele Täternachkommen Hinweise auf Verbrechen ihrer Väter lange „überhört“. Haben versucht, Beweise für deren Unschuld zu suchen. Das hat viel mit Familienloyalität zu tun, aber auch mit der Irritation, den Vater nur halb gekannt zu haben, sich quasi nachträglich ent-lieben zu müssen.

Andere verfallen ins andere Extrem und bezichtigen die Väter vorschnell des Schlimmstmöglichen, rudern dann zurück. Dieses Wechselspiel zwischen Wissenwollen und Nicht-Aushaltenkönnen, zwischen zornig akribischer Recherche und depressiver Verarbeitungsphase teilen die Teilnehmer der Seminare. Und das Interesse ebbt mit zunehmendem Abstand nicht ab, im Gegenteil: Obwohl von Wrochem überzeugt ist, „dass sich ein großer Teil der deutschen Gesellschaft weiterhin nicht mit ihrer NS-Familiengeschichte auseinandersetzen möchte“, steigt die Nachfrage – weit stärker als bei den Seminaren für Opfernachkommen.

Zynismus der Geschichte

Das hat – Zynismus der Geschichte – auch damit zu tun, dass es mehr überlebende Täter als Opfer gab. Andererseits damit, dass immer mehr Täternachkommen an die Öffentlichkeit gehen, Bücher und Filme über ihre Familiengeschichte veröffentlichen. Die Gedenkstätte Neuengamme selbst hat kürzlich den Band „Nationalsozialistische Täterschaften – Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie“ herausgeben, der neben historischen Analysen auch Berichte von Täternachkommen enthält und so die private Ebene mit der gesellschaftlichen verknüpft.

Allen recherchierenden Täternachkommen gemeinsam ist dabei ein Grund-Unwohlsein angesichts bleibender Lücken. Denn oft können sie weder Werdegang noch Motivation der Täter genau rekonstruieren. „Viele Seminarteilnehmer haben zudem das Bedürfnis, Gewissheit zu bekommen: War mein Verwandter ein Täter oder doch nur ein Mitläufer?“, sagt von Wrochem. Aber diese klare Abgrenzung funktioniert oft nicht; auch Historiker schreiben die NS-Verbrechen längst nicht mehr wenigen „bestialischen“ Einzeltätern zu.

„Man geht inzwischen von 200.000 bis 250.000 Tätern in Deutschland und Österreich aus“, schreibt Historiker Frank Bajohr. Denn es habe ja nicht nur die – gleichfalls klar abgegrenzten – KZ gegeben. Sondern auch die unkontrolliert eskalierenden Massen­erschießungen von Juden in Osteuropa. Begangen zum Beispiel von Mitgliedern des Hamburger „Reserve-Polizei-Bataillons 101“, das Christopher Browning im Buch „Ganz normale Männer“ beschreibt. Zentral war dabei der auf gemeinsam verübten Grausamkeiten beruhende Zusammenhalt der „Kameraden“ vor Ort.

Zivile „Bystander“

Das Dilemma der Täterkinder

Viele Täternachkommen haben Hinweise auf Verbrechen ihrer Väter lange „überhört“. Das hat viel mit Familienloyalität zu tun, aber auch mit der Irritation, den Vater nur halb gekannt zu haben, sich quasi nachträglich ent-lieben zu müssen

Aber wie steht es mit den vom Holocaust-Forscher Raul Hilberg definierten zivilen „Bystandern“? Jenen, die schon seit Hitlers Machtergreifung 1933 zuschauten, zuließen, heimlich oder offen guthießen, dass Juden misshandelt wurden, gar von der „Arisierung“ jüdischen Besitzes profitierten: Hätten sie gefahrlos anders handeln können? Wie weit sind sie verantwortlich? Projekte wie die jüngst von Hamburgs Landeszentrale für politische Bildung freigeschaltete Datenbank mit „Dabeigewesenen“ verweisen – auch durch ihren klobigen Namen – darauf, dass diese Gruppe riesig und nicht klar zu fokussieren ist.

Die Erkenntnis, dass die Grenzen so fließend sind, enttäuscht viele Seminarteilnehmer in Neuengamme. Denn oft gelinge nur eine Annäherung, „und dann müssen sie weiterleben mit einem Rest von Ungewissheit“, sagt von Wrochem. „Die Täternachkommen empfinden oft eine Ambivalenz zwischen Liebe und Hass ihren Verwandten gegenüber.“

Dieses Problem haben die Nachkommen der NS-Verfolgten nicht, sie empfinden in der Regel Zuneigung und Zusammengehörigkeitsgefühl. Obwohl von Wrochem die Seminare für Täternachkommen wichtig findet, sieht er es nicht gern, dass sich die Medien derzeit einseitig auf diesen Aspekt stürzen: Noch seien längst nicht alle Opfer gewürdigt, so genannte „Asoziale“, „Kriminelle“ und „Euthanasie“-Opfer seien kein Teil der offiziellen Gedenkkultur, meint von Wrochem.

Immerhin bietet Neuengamme als erste deutsche KZ-Gedenkstätte auch Dialog-Seminare für Täter- und Opferkinder und -enkel an. Dies war der Wunsch vieler Täternachkommen, und in der Tat verbindet beide Gruppen, dass sie schwer am familiären Erbe tragen. Auffallend viele von ihnen sind politisch engagiert und setzen sich dafür ein, dass sich Ausgrenzungsmuster nicht wiederholen. Eins der Seminare endete mit einer gemeinsamen Erklärung. „Wir, die Nachkommen der Täter, tragen keine Schuld, und wir, die Nachkommen der Verfolgten sind keine Helden, nur weil unsere Angehörigen Opfer waren“, steht darin.

Auch wenn bei den Seminaren immer eine Psychologin anwesend ist, geht es von Wrochem weder um Versöhnung noch um Therapie. Die Seminare sollen dem Austausch dienen und der wechselseitigen Unterstützung. „Unser Ziel ist nicht, ausgesprochene Versöhnung herbeizuführen“, sagt auch der Neuengammer Gedenkstätten-Pfarrer Hanno Billerbeck. Es gehe um eine Zukunft ohne Gewalt und Ausgrenzung. „Und das ist nur möglich, wenn man sich einig ist in der Beurteilung der Vergangenheit.“