Einfach mal so

Kein Aufarbeitungsfuror, dafür kleine Tragödien und Historie: Arno Geigers Familienroman „Es geht uns gut“

Faszinierend, wie wenig Material eine Familiensaga braucht, um lesbar zu sein

Der Sand ist fein, die Sonne scheint, es geht uns gut. Unzählige Postkarten verschleiern mit derartigen Sätzen eine wahre Urlaubssituation. Wenn ein Buch, das eine Zeitreise in die vergangenen 70 Jahre Österreichs ist, „Es geht uns gut“ heißt, liegt der Verdacht nahe, es müsse sich um einen ähnlichen Euphemismus handeln, wenn nicht um Ironie. Die Menschen, die aus Arno Geigers Roman „Es geht uns gut“ herausgrüßen, haben den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach aber tatsächlich recht gut gemeistert. Keine Leichen sind aus dem Keller zu holen, keine Nazigrößen zu entlarven. Der Ich-Erzähler, der von seinen Eltern und Großeltern erzählt, hat keine außergewöhnliche Familiengeschichte vorzuweisen. Das Hauptgewicht des Romans liegt in den kleinen Tragödien, in denen sich aber die große Geschichte widerspiegelt.

Philipp Erlach hat ein großes Haus im Villenviertel Wiens geerbt. Er sitzt den Tag über auf den Treppenstufen der Eingangstür und sinniert über seine verstorbenen Verwandten. Es geht ihm gut. Es ginge ihm noch besser, müsste er sich nicht mit dem von Tauben verdreckten Dachboden im Haus der Großeltern beschäftigen. Meterdick schichtet sich dort der Dreck der Jahre aufeinander. Nun müssen Gasmasken und schweres Gerät her. Das ist mühsam, gerade für einen Lethargiker wie Philipp, der aber solche Arbeit souverän zu delegieren weiß.

Philipp, Mitte 30, hat sich nie mit der eigenen Familiengeschichte befasst. Nun ist es zu spät, jemanden aus der Verwandtschaft dazu zu befragen, alle sind tot. Philipp beginnt, während er lustlos den modrigen Hausrat in die bestellten Müllcontainer wirft, seine unmittelbare Vorgeschichte zu erfinden. Er notiert sie und träumt von Arbeitsplätzen in jedem Zimmer des Hauses, die der Rekonstruktion je einer Person seiner Familie gewidmet sein sollen. Aus Bruchstücken fantasiert er perfekte Familiendramen zusammen, kann daraus aber keinerlei Vorhersagen für sein Leben treffen. So erfährt man von ihm selbst auch über die gesamte Länge des Romans kaum etwas Konkretes.

Alle Kapitel des Romans sind mit Jahresdaten überschrieben. Die auf 1938, 1945, 1970 und 1989 datierten sind interessanter als die Kapitel über Philipps Lustlosigkeit im Jahr 2001 angesichts der Aufräumarbeiten. Fein ist es, wie Arno Geiger einen langweiligen Erzähler etabliert, um dessen Geschichten umso eindrucksvoller wirken zu lassen. Zum Beispiel die vom verwirrten Volksstürmer, dem nicht akzeptierten Gatten für die gutbürgerliche Tochter. Das Unglück mit dem verhakten Armband am Donaugrund, bei dem die Mutter zu Tode kommt. Oder eine Generation vorher: die ulkige Art, wie Philipps Großvater, der gerade erst Vater wurde, die Liaison mit dem Kindermädchen beendet.

Er sieht nämlich ein, wie schwer Kinder, Frau und Zugehfrau in einem Haus und die ganzen Ratssitzungen miteinander zu vereinbaren sind. Er zieht sich vorerst aus der österreichischen Politik zurück, der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland lässt ihm ohnehin keine Wahl. Nun ist er mehr zu Hause, stockt seiner Frau zur Besänftigung das Geld für die Garderobe auf, und das dralle Kindermädchen verwirrt andere mit ihren quellenden Brüsten. Später als Minister ist der Großvater eine Schlüsselfigur beim Staatsvertrag des Jahres 1955. Doch auf dem legendären Foto ist er als einziger Politiker nicht zu sehen, da er wegen Zahnschmerzen zu Hause bleiben musste. Damit dergleichen nicht noch einmal geschieht, lässt er sich alle Zähne ziehen.

Es sind keine aufregenden Geschichten, die Arno Geiger erzählt. Aber wunderbar in sich abgeschlossene Tragödchen: dramatisch, komisch und mitreißend. Familiengeschichten sind ein dankbares Genre. Alle Leser haben Eltern und Großeltern, mindestens genetisch. Autoren müssen gewisse Konstellationen nicht lang und breit erklären. Das Wort Schwiegervater spricht Bände, und so arbeitet auch Arno Geiger. Es ist faszinierend, wie wenig Material eine Familiensaga braucht, um als überzeugende Chronik lesbar zu sein. Das ist ein Trost für alle, die sich nie mit ihrer Familiengeschichte beschäftigen wollten, wie Philipp. Es ist nicht nur wie in dem viel zitierten Zitat Tolstois, dass alle glücklichen Familien einander ähneln, auch Familiengeschichten ähneln einander. Man muss nur in der Lage sein, leicht zu schreiben mit verwundert-ironischer Distanz zum Gegenstand, und wenn einem nichts einfällt, einfach etwas dazuerfinden, so wie es Arno Geiger hier glänzend vorexerziert.

GUSTAV MECHLENBURG

Arno Geiger: „Es geht uns gut“. Hanser, München 2005, 389 Seiten, 21,50 €