Das Tagebuch Westfalens

Wissen Sie schon, was Sie am 18. November machen? Nein? Nicht schlimm. Aber schreiben Sie nachher auf, was Sie gemacht haben. Die Volkskundler von der Universität Münster wollen jedes Detail wissen. Auch was Sie gegessen und gedacht haben

VON HOLGER ELFES

Am 18. November 1307 schoss Wilhelm Tell, der Legende nach, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes. Am 18. November 1626 wurde nach einer Bauzeit von 120 Jahren der Petersdom in Rom durch Papst Urban VIII. geweiht. Und am 18. November 1994 erteilte das Europäische Patentamt erstmalig ein Patent für eine gentechnisch veränderte Tomate.

Nicht weltbewegend, aber immerhin spannender als die meisten anderen 18. November der Geschichte. Und sollte nicht zufällig am 18. November dieses Jahres die Wahl von Deutschlands erster Bundeskanzlerin stattfinden, würde der Tag wohl nicht unbedingt in Erinnerung bleiben. Doch genau das wünschen sich Wissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität und des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, die den ganz normalen Alltag zu Beginn des 21. Jahrhunderts dokumentieren wollen. In Münster wurde daher jetzt ein für den deutschen Sprachraum einzigartiges Projekt gestartet: Die Forscher rufen alle 8,5 Millionen Menschen in Westfalen auf, am 18. November 2005 Tagebuch zu führen und das Resultat einzuschicken. Das Projekt „Mein 18. November“ bildet den Auftakt für eine verstärkte Beschäftigung mit der gegenwärtigen Alltagskultur.

Mittlerweile gibt es in der Dokumentation des heutigen Alltagslebens große Lücken. „Wir haben zwar die Ergebnisse einer groß angelegten Umfrage zum Leben vor dem Zweiten Weltkrieg, wenn wir aber nach dem Alltagsleben der Gegenwart gefragt werden, müssen wir nicht selten passen“, sagt Ruth-E. Mohrmann, Vorsitzende der Volkskundlichen Kommission für Westfalen und Direktorin des Seminars für Volkskunde und Europäische Ethnologie der Universität Münster. Im Archiv der Kommission befinden sich zahlreiche Berichte darüber, wie die Menschen zwischen 1890 und 1950 gelebt haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Zeitzeugen angeregt, ihre Erinnerungen an diese Zeit niederzuschreiben. Alle Berichte orientieren sich an Fragebögen. So sind die Antworten ähnlich aufgebaut und behandeln vielfach Aspekte, auf die die Befragten vermutlich von selbst nicht zu sprechen gekommen wären.

Insgesamt liegen rund 6.600 Berichte zu unterschiedlichen Themen vor. Etwa aus der Feder von einem Pfarrer Heinrich M. aus Schmallenberg-Bödefeld, der die Essensgewohnheiten vor dem Ersten Weltkrieg beschrieb: „Vesperbrot“ (trocken) gab es nur im Sommer, dafür wurde abends später gegessen. Reste vom Mittag – Milchsuppe mit Weizenmehl und Brot – Bratkartoffeln, meist mit Kaffee gebraten.“ Oder von Landwirt Johannes W. aus dem Kreis Höxter über den frühen Morgen: „Nun wurde sich gewaschen, des Werktags fast ohne Seife. Inzwischen war die Mutter oder die Magd oder erwachsene Tochter gegen halb fünf zum Melken geweckt, damit die Milch rechtzeitig abgeholt werden konnte.“ Ähnliches verspricht man sich vom jetzigen Schreibaufruf: Alle Menschen, die in Westfalen und Lippe leben oder sich mit der Region verbunden fühlen, sollen am 18. November dokumentieren, wie sie diesen Freitag verbracht haben.

Die Idee entstand nach Vorbildern in den Niederlanden und in Skandinavien. Volkskundlerin Mohrmann ist sich sicher, dass die bundesweit einmalige Aktion erfolgreich verlaufen wird. In Dänemark hätten 55.000 Menschen auf einen ähnlichen Aufruf reagiert. Die Prozedur ist einfach: Jeder Teilnehmer schreibt einen möglichst ausführlichen Bericht über seinen Tagesablauf, seine Gedanken, Gefühle und Erlebnisse am 18. November. Jeder wählt das aus, was er selbst für wichtig hält. Wer es besonders gut meint, fügt ein paar Fotos von diesem Tag bei und schickt alles per Post oder E-Mail an die Volkskundliche Kommission.

Anders als in vielen Umfragen soll auf diese Weise jeder Westfale zu den Teilen des Lebens befragt werden, in denen er selbst Experte ist. „Keiner muss fürchten, dass etwas zu banal ist, um aufgeschrieben und festgehalten zu werden. Wichtig ist nur, dass jeder selbst und über sein Leben schreibt“, sagt Projektmitarbeiter Lutz Volmer. Dabei wollen die Volkskundler nicht nur den Tagesablauf in allen Details kennen lernen, sondern auch herausfinden, wie die Menschen sich während des Tages gefühlt haben. „Zum Beispiel interessiert uns nicht nur, was die Westfalen und Lipper an diesem Tag im Fernsehen gesehen haben, sondern auch, was sie über das Programm denken, ob sie allein vor dem Fernseher saßen und ob sie sich über das Gesehene unterhalten haben“, so Volmer.

Dass nicht jeder solche sehr persönlichen Angaben anderen, unbekannten Menschen mitteilen möchte, wissen die Volkskundler. Daher werden auch anonyme Briefe oder Mails entgegen genommen. Um die Berichte einordnen zu können, sollten aber Rahmendaten wie Geburts- und Wohnort, Beruf, Alter und Geschlecht vermerkt sein.

Infos: 0251-8324404www.mein18november.de