„Die Medizin ignoriert Frauen“

Frauen werden bei der medizinischen Versorgung massiv diskriminiert. In Herne findet eine Aktionswoche Frauengesundheit statt. Sabine Schirmer von der Herner Gleichstellungsstelle über gefährliche Missstände im Gesundheitssystem

taz: Frau Schirmer, Sie fordern mehr Gleichberechtigung in der medizinischen Versorgung. Was läuft denn da falsch zur Zeit?

Sabine Schirmer: Frauen werden von der Medizin größtenteils ignoriert: Sie werden einfach behandelt, als wären sie Männer – und das hat zum Teil tödliche Folgen, weil Frauenkörper anders funktionieren. Zum Beispiel haben Frauen bei einem Herzinfarkt häufig andere Symptome als Männer: Sie klagen über starke Rückenschmerzen, während es bei Männern im linken Arm zieht. Infarkte bei Frauen werden deshalb oft zu spät erkannt und behandelt. Mit dem Ergebnis, dass Herzinfarkte bei Frauen deutlich häufiger tödlich ausgehen.

Woher kommt diese Missachtung?

Im Medizinstudium spielen geschlechtsspezifische Unterschiede noch immer kaum eine Rolle. In der Arzneimittelforschung sieht es genauso aus. Medikamente werden fast ausschließlich an Männern getestet. Aber Frauen sind nicht einfach 15 Kilo leichtere Männer, deshalb kann es leicht zu Fehl- und Übermedikationen kommen. Dieser Forschungsmissstand hat wohl in erster Linie Kostengründe: Die Pharmafirmen müssten eigentlich für jedes Medikament doppelte Testreihen einplanen. Daran sparen sie natürlich.

Gehen denn die Frauen selbst anders mit Gesundheit und Krankheit um als Männer?

Das ist ja das Paradoxe an dem Thema: Frauen gehen sorgfältiger mit ihrer Gesundheit um als Männer. Sie gehen bei Beschwerden häufiger zum Arzt und nehmen auch mehr Vorsorgeuntersuchungen wahr. Nur kann ihnen dort nicht so gut geholfen werden, weil sie häufiger über unspezifische Symptome klagen als Männer.

Weil sie empfindlicher sind?

Nein. Frauen leiden häufiger an psychosomatischen Erkrankungen als Männer, weil sie auch heutzutage noch diejenigen sind, die Job, Kind und Familie unter einen Hut bringen müssen. Diese Mehrfachbelastung kann zu allen möglichen Symptomatiken führen. Ärzte betreiben jedoch häufig keine weitere Ursachenforschung bei ihren Patientinnen, sondern verschreiben Psychopharmaka. Erschreckenderweise sind auch deutlich mehr Frauen von solchen Medikamenten abhängig als Männer.

Solche Ergebnisse müssten doch eigentlich Ärzte und Gesundheitspolitiker aufrütteln.

Es gibt natürlich auch Ärzte und Ärztinnen, die sich dieser Problematik bewusst sind. Aber die Pharmalobby ist eben sehr mächtig und es geht hier um viel Geld. Es arbeiten aber inzwischen bundesweit viele Frauenorganisationen zu dem Thema und tragen es in die Öffentlichkeit. Das macht Hoffnung.

INTERVIEW: MIRIAM BUNJES