30 Jahre Tschernobyl: Verstrahlung in positivem Licht

Die weißrussische Regierung will Menschen dazu bringen, in die belasteten Gebiete zu ziehen. Derweil steigt die Zahl von Krebserkrankungen.

Ein AKW im weißrussischen Astravyets

Das Atomkraftwerk im weißrussischen Astravyets. 2018 soll der erste Reaktor ans Netz gehen Foto: dpa

Bis heute glaube ich daran, dass mich meine Großmutter gerettet hat. Ich war drei Monate alt, als der vierte Block des Atomkraftwerks von Tschernobyl explodierte. Alles, was damals passierte, weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Minsk, Sonne. Ich ging mit meinen Eltern spazieren. Sie hatten sich freigenommen, denn so einen Sommertag wollten sie sich nicht entgehen lassen.

Später erfuhren sie, dass zu diesem Zeitpunkt der Unfall in Tschernobyl gerade einmal drei Tage zurücklag. Meine Großmutter rief an. Sie arbeitete als Leiterin einer Planungsabteilung in der „Lenin“-Fabrik. „Schließt die Fenster und Türen, geht nicht auf die Straße. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber bei uns spielen alle Geräte verrückt. In Minsk gibt es Radioaktivität“, brüllte sie ins Telefon.

Als ich in der Schule war, wurden wir jedes Jahr medizinisch untersucht. Sie nannten uns „Tschernobylskie“, weil wir im Jahr der Katastrophe geboren worden waren. Die Untersuchungen dauerten jedes Mal einen ganzen Tag. Analysen, Überprüfung der Sehkraft, des Gehörs, der Wirbelsäule, Röntgenaufnahmen.

Alle hatten immer ganz besondere Angst vor dem Behandlungszimmer, wo die Schilddrüse untersucht wurde. Ich erinnere mich an die Tränen einer Mitschülerin, der sie sagten: Da sind Knoten, du musst weiter untersucht werden. Mit der Radioaktivität machten sie uns Angst. Aber sie erklärten auch nicht, dass diese vergrößerten Knoten nicht tödlich waren, sondern behandelt werden konnten.

An Krebs gestorben

Einmal wurden alle Schüler in die Akademie der Wissenschaften gebracht. Dort hatten Experten ein Gerät entwickelt, mit dem sie die Radioaktivität im Organismus eines Menschen messen konnten. Ich ging mit meinem Bruder und meiner Großmutter dorthin. Ich hatte den niedrigsten Wert, den höchsten hatte meine Großmutter.

„Das habe ich mir wohl in der Fabrik geholt“, sagte sie erstaunt. Warum das so war, erklärte uns niemand. Sie gaben uns die Werte und schickten uns hinaus. Zehn Jahre später starb meine Großmutter. An Krebs.

Einmal hörten wir in der Schule einen Vortrag. Gekommen war der Vater eines Schülers, der Liquidator gewesen war. Er erzählte, wie man ihnen Jod und Rotwein als Medikament gegeben hatte. „Radioaktivität ist schrecklich, Kinder, aber man kann mit ihr leben“, sagte unsere Lehrerin. Einen Monat später erfuhren wir, dass dieser Mann gestorben war.

Dieser Text enstammt einer Sonderbeilage der taz zum Jahrestag der Atomkatastrophe. Junge JournalistInnen aus der Ukraine, Weißrussland und Deutschland schreiben in der Beilage über ihren Bezug zu Tschernobyl. Erfahren Sie mehr zu diesem Projekt bei der taz.panter stiftung.

Ebenfalls zum traurigen Jubiläum erschien in der Wochenendausgabe 23./24. April ein großes Dossier mit dem Titel „Generation Tschernobyl“.

Mehr über die Reaktorkatastrophe sowie die Berichterstattung der taz damals und heute gibt es hier.

2011 wurde in Weißrussland ein Plan vorgelegt, wie mit den Folgen von Tschernobyl umzugehen sei. Dort heißt es: „Die Bevölkerung in den nicht betroffenen Gebieten und die Weltgemeinschaft sollen eine positive Beziehung zu den Menschen in den belasteten Gebieten aufbauen.“ Tschernobyl ist in Weißrussland für die Staatsmacht kein großes Thema. Sie zieht es vor, am Jahrestag ein Konzert zu veranstalten, anstatt eine Schweigeminute einzulegen.

Niedrige Steuern und Zinsen

Jedes Jahr verabschiedet die Regierung ein Dokument, dem zufolge sich der Zustand der verstrahlten Gebiete bessert: Dort könne man leben, Landwirtschaft betreiben und Wasser aus dem Brunnen trinken. Vielen will es immer noch nicht in den Kopf, dass die Halbwertszeit radioaktiver Elemente Hunderte von Jahren beträgt. Und seit Tschernobyl sind erst 30 Jahre vergangen …

2015 unterschrieb Präsident Alexander Lukaschenko einen Erlass. Menschen sollen dazu angehalten werden, sich in den sieben Regionen des Mogilewsker Gebietes anzusiedeln. So sind dort Steuern und Zinsen für Kredite wesentlich niedriger. Um in den Genuss dieser Wohltaten zu kommen, muss man einen Vertrag unterschreiben: Man darf die Region mindestens zehn Jahre lang nicht verlassen und muss mindestens fünf Jahre in einem der örtlichen Betriebe arbeiten.

Offiziellen onkologischen Statistiken zufolge wächst die Anzahl von Patienten mit bösartigen Geschwülsten. Allein im Jahr 2013 waren das 44.000 Personen. In den Registern waren damals 250.000 Erkrankte erfasst. Einen Zusammenhang zwischen Radioaktivität und Krebs räumen die Ärzte nur für Schildrüsenleiden ein. Alle anderen onkologischen Erkrankungen werden Alkohol, dem Rauchen oder Stress zugeschrieben.

Dessen ungeachtet versucht der Staat das Thema Tschernobyl in positivem Licht erscheinen zu lassen. Warum? Die Erschließung der verstrahlten Gebiete verspricht wirtschaftlichen Aufschwung. Außerdem wird in Weißrussland, in Astravyets, gerade ein neues Atomkraftwerk gebaut. 2018 soll der erste von zwei Reaktoren angefahren werden. Laut offiziellen Umfragen unterstützen mehr als 70 Prozent der Weißrussen dieses Projekt.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

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