Auf eine Tasse Tee

Seit 25 Jahren verteilen die Freiwilligen der Teestube Sarah auf dem Hamburger Strich Heißgetränke und Kondome und bieten Rat und Hilfe

aus Hamburg Mechthild Bausch

„Ihr seid spät dran heute“, begrüßt Tamara* die beiden Frauen, die große Taschen neben sich aufs Pflaster stellen, Thermosflaschen und Plastikbecher herausklauben. „Ich freu’ mich schon seit einer Stunde auf den heißen Kakao.“ Der Herbst ist mild, aber irgendwann kriecht die Kälte durch die Jeans und unter die kurze Nylonjacke. Es ist fast zwei Uhr nachts und Tamara steht seit achtzehn Uhr, mit Unterbrechungen, wenn sie einen „Kunden“ bedient, auf ihrem Stammplatz in der Hamburger Davidstraße, im Spalier mit knapp zwei Dutzend Kolleginnen. Schichtende ist um vier.

Tamaras Nachbarinnen schlendern heran, umringen die beiden Frauen mit ihren Taschen, die außer heißen Getränken Süßigkeiten herumreichen. „Sind die bunten Kaugummikugeln dabei?“, fragt Jasmin*. „Die erinnern mich an früher.“ Auch Lilly* klaubt in der Bonbondose. „Nächste Woche hab’ ich Urlaub“, erklärt sie. Ob sie verreist? „Nach Innsbruck“, antwortet Lilly, „und danach an den Gardasee.“

Tamara pfeffert ihren leeren Becher in den Rinnstein. „Komm mal her!“, lockt sie einen männlichen Passanten, der den Bürgersteig heraufeilt. „Hey, komm doch mal her!“ Der potentielle Kunde drückt sich wortlos vorbei. Lilly war erfolgreicher. Die Schwarzhaarige führt einen Freier in den Eingang der „Steige“, die sich direkt hinter ihr befindet. Eine zierliche Blondine nähert sich unschlüssig dem kleinen Kaffeekränzchen unter freiem Himmel. „Die ist neu“, verrät Jasmin. Der Blonden ruft sie zu: „Ist schon okay. Die sind von der Heilsarmee.“ „Quatsch!“, fällt Tamara ihr ins Wort. „Das ist doch die Teestube!“

Seit 25 Jahren zieht die Teestube über den Kiez

Verwechslungen mit den – mindestens dem Namen nach – militanten Segensbringern gehören zur Geschichte der Teestube Sarah auf St. Pauli wie die abgewetzten Tragetaschen. Seit 25 Jahren ziehen die ehrenamtlichen MitarbeiterInnen der Teestube ein- bis zweimal wöchentlich durch Hamburgs Strichreviere, verteilen Getränke, Süßigkeiten und Kondome. Kostenlos. Einzige Mission ist der Kontakt zu den Prostituierten. Man redet miteinander: über das Wetter, das Geschäft, Balkonpflanzen, Urlaubsreisen, Umzüge, Haustiere, Familie. Über Nichts und Alles.

Gegründet wurde die Institution von dem Österreicher Otto Oberforster, einem Werftarbeiter mit Wahlheimat St. Pauli. Die Anfänge sind Legende: Eines Morgens begann Oberforster auf dem Weg zur Arbeit seinen Tee mit den Frauen auf dem Straßenstrich zu teilen. Er kam mit ihnen ins Gespräch, half ihnen, nahm sie, wenn nötig, bei sich auf. Aus seiner Initiative entwickelte sich das vierte Hamburger Frauenhaus. Sitz der Teestube Sarah ist heute Oberforsters frühere Privatwohnung am Hans-Albers-Platz: In der winzigen Küche stapeln sich Thermoskannen und Kakaopulverdosen, Süßigkeiten und Kondome lagern pfundweise im Hinterzimmer. Die Vorräte werden durch Spenden regelmäßig aufgefüllt. Im einzigen größeren Raum finden Mitarbeitertreffen, und, einmal monatlich, ein ökumenischer Gottesdienst statt.

Das Fragen nach dem „Warum“ hört niemals auf

Zu den Mitstreitern der frühen Stunden zählt die Sozialarbeiterin Christiane Wulf, die Otto Oberforster als 21-jährige Theologiestudentin begegnete. Im Rahmen eines Seminars über „Seelsorge mit Randgruppen“ lernte sie den Österreicher kennen. „Er trat sehr charismatisch auf und hatte keine Berührungsängste“, erinnert sie sich. Tags darauf meldete Oberforster sich bei ihr und bat sie, eine Prostituierte aufs Sozialamt zu begleiten. Seitdem gehört Christiane Wulf zum festen Stamm der rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie gab ihren Wunsch auf, Pastorin zu werden, und arbeitet seit 1986 als Sozialarbeiterin in der „Zentralen Beratungsstelle“ (ZB) in der Max-Brauer-Alle, wo Prostituierte auch anonym medizinische Hilfe und Beratung finden. Die Teestube funktioniert als Knotenpunkt im Netzwerk der behördlichen und freien Beratungs- und Anlaufstellen für Prostituierte in Hamburg.

Für Christiane Wulf, die das Hamburger „Milieu“ wie kaum eine andere kennt, hört das Nachdenken über Prostitution niemals auf. „Ich kann verstehen, dass Frauen als Prostituierte arbeiten, weil sie Geld brauchen“, sagt die Sozialarbeiterin. Aber selbst nach 20 Jahren könne sie nicht wirklich begreifen, warum Männer zu Prostituierten gehen. Auch die Arbeit der Teestube stellt die gebürtige Hamburgerin immer wieder in Frage. „Warum machen wir das?“ Je länger sie darüber nachdenke, desto weniger Antworten finde sie. Nur eine Erfahrung hat Bestand: „Die Prostitution macht jede Frau kaputt“, sagt sie. Der Grund: Wer Sex verkauft, gerät schnell in den fatalen Kreis von seelischer Abhängigkeit vom Zuhälter, Schulden, drohenden Repressionen und sozialer Isolation – was es so schwer macht, beizeiten den Weg aus dem Milieu zu finden.

Ein höhnisches Lächeln für das Prostitutionsgesetz

Und das umstrittene Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung von Prostituierten, das vor vier Jahren in Deutschland in Kraft trat, was bringt es den Frauen? Tatsächlich „erntet man bei den Frauen nur höhnisches Lächeln“, erzählt die 36- jährige Juristin Sabine Stadtkowitz, die seit eineinhalb Jahren zum Kreis der Teestube Sarah gehört. „Die Grundidee ist nicht schlecht. Aber welche Prostituierte verlangt denn von ihrem Zuhälter einen Arbeitsvertrag?“ Die temperamentvolle Mutter eines 14-jährigen Sohnes geht fast jede Woche auf Kieztour und kommt bei den Frauen gut an. Einmal bat eine Prostituierte sie, mit „aufs Zimmer“ zu gehen: Ein Kunde warte oben und habe den Wunsch geäußert, eine „normale“ Frau solle ihn kurz im Puffambiente begutachten, da stehe er drauf. Sabine Stadtkowitz ging mit. Ihr Bild von Frauen, die in der Prostitution arbeiten, habe sich sehr gewandelt, sagt sie. „Im Milieu besteht für die einzelne Frau viel mehr Freiraum, als ich vermutet habe.“ Doch bei aller aufgekratzten Lockerheit und Abgebrühtheit gilt: „Wenn die Geschäfte nicht mehr laufen, wachen sie endlich auf.“ Ihr sei es wichtig, „einfach nur da zu sein. Eine Brücke zur Außenwelt.“

Donnerstag, 22 Uhr, Süderstraße. Hamburger Industriegebiet. Speditionen und Lagerhäuser säumen die Straßenschluchten, rechts und links düstere Reihen parkender Lkws. Es riecht nach Kaffeerösterei. Gegenüber dem hell erleuchteten Imbiss „Lecker Ding“ steht Romina* aus Brasilien. Ihre Augen leuchten grün, das Gesicht unter den dunklen Locken ist auf niedliche Weise hübsch. Sie trägt ein Mieder aus schwarzem Leder, rote Hotpants mit Spitzenbesatz, Plateaustiefel. Romina grüßt freundlich, sagt „alles okay“, bläst mit gespitzten Lippen in den heißen Kakao. „Setas“ murmelt sie, als sie die Schaumgummipilze aus der Bonbondose fischt. Ihr Deutsch ist schlecht, sie ist seit zwei Jahren hier. Weihnachten, sagt sie, fährt sie wieder nach Hause nach Brasilien, endlich.

Zwanzig Meter weiter steht Mareike*, blond und ganz in Jeans. Sie riecht nach Alkohol und redet wie ein Wasserfall – von einer Nierenbeckenentzündung, ihrem platonischen Freund, ihren Eltern, die einen Hof bewirtschaften. Sie wissen, was ihre Tochter macht, sagt Mareike, jetzt ist der Kontakt abgerissen, „aber nicht deswegen“, sagt sie. Autos rollen vorüber, Mareike fixiert die Männer hinter der Windschutzscheibe. Auf dem Straßenstrich läuft das Geschäft über Blickkontakt. „Mann!“, pöbelt Mareike, „der ist schon viermal vorbei gefahren.“

„In drei Jahren ist Schluss“, prophezeit die 37-Jährige. Vom Aufhören reden die Frauen häufig, vor allem in der Süderstraße. Einige stehen seit über zehn Jahren hier. Ein einziges Mal habe sie einer Prostituierten in der Süderstraße gesagt, sie solle unbedingt und sofort aussteigen, erinnert sich Maren Gottsmann, obwohl derlei direkte Empfehlungen gegen das Selbstverständnis der Teestube verstoßen. Aber besagte Frau sei neu auf dem Strich gewesen, und es sei ihr offenbar sehr schlecht dabei gegangen, sagt die Pastorin aus Niendorf. Sie hat ihren Mann Rolf über die Teestube kennen gelernt, inzwischen hat das Paar zwei gemeinsame Kinder. Nach einer Pause geht Maren, die seit 1990 zum Kreis der Teestube gehört, wieder gelegentlich nachts „austragen“, wie es im Jargon der Gruppe heißt. „Die Süderstraße hat sich in den letzten Jahren sehr verändert“, sagt Maren Gottsmann. Weil die Hamburger Polizei mit massiven Kontrollen und Razzien den Strich und die Clubszene von St. Georg „gesäubert“ hat, sind viele Prostituierte aus St. Georg in die Süderstraße abgewandert.

Die Ausschnitte aus den Lebensgeschichten, von denen man hier erfährt, sind oft trostlos. Olivia* ist manchmal hier, sie fährt morgens mit der ersten S-Bahn nach Hause, um ihre vier Kinder für die Schule zu wecken. Patricia* parkt fast jede Nacht ihren VW-Bus am Straßenrand. Ihr Mann holt sie morgens ab. Er hat sich einen Oldtimer gekauft. Kim* ist 23. Sie geht anschaffen, seit sie 19 ist.

Aber es geschehen auch Wunder auf dem bizarren Boulevard der Begehrlichkeiten. Vor einigen Monaten begleitete ein kirchlicher Würdenträger, der sich für die Arbeit der Gruppe interessierte, den Teerundgang über den Straßenstrich. Als eine der Frauen erfuhr, dass er ein Geistlicher war, bat sie ihn um seinen Segen. In dieser Nacht gab ihr ein Freier sensationelle 1.000 Euro.

Blicke in den Abgrund der Zivilisation

Der Gründer der Teestube starb im Jahr 2000. Wie immer, wenn ein charismatischer Gründer verschwindet, bleibt die Gruppe ratlos zurück – und findet sich neu. An Nachwuchs mangelt es nicht. Die aus der Normandie stammende Ingenieurin Fanny (29) schätzt, dass die Mitglieder der Gruppe „aus völlig verschiedenen Ecken kommen“ und sich aus dieser Disparität „spannende Diskussionen“ ergeben. Der 25-jährige Philosophiestudent Jan möchte die Rundgänge nicht missen, auch wenn er glaubt, dass die Gespräche mit den Frauen „weniger offen sind, wenn ein Mann dabei ist“.

Nach 25 Jahren ist die Teestube Sarah weiter unterwegs und engagiert sich, wie Christiane Wulf sagt, in einem jener „Bereiche, in dem die Schicht der Zivilisation ganz dünn ist und Risse hat, durch die man in die Abgründe schauen kann“. Viele Fragen bleiben offen, und es gibt keine messbaren Ergebnisse. „Manchmal denke ich, es wäre vielleicht besser, in einer Teppichbodenabteilung zu arbeiten“, gesteht Christiane Wulf. „Auf der anderen Seite habe ich in all den Jahren unglaublich viel Solidarität kennen gelernt.“

* Namen von der Autorin geändert