Kein Maikäferballett

Tanz in Schulen Die Tanzspielzeit Podewil macht ein interessantes choreografisches Angebot für Kinder und Jugendliche, damit die dann selbst lernen können, ihre eigene Bewegungssprache zu entwickeln

Der Choreograf und Tänzer Ante Pavić in voller Aktion Foto: René Loeffler

von Annett Jaensch

Die Nase wandert zu den Fingerknöcheln, die Kehle gleitet in den Oberschenkel. Bei Ante Pavić verrutschen schon mal anatomische Gewissheiten, wenn er in dem Solo „FelixGraysonJosephine“ die Landkarte seines Körpers betextet. Das kleine Verwirrspiel zettelt der Choreograf vor den Augen eines ziemlich jungen Tanzpublikums an: Auf den rund 100 Plätzen im Podewil sitzen an diesem Vormittag Berliner Schüler*innen im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren, die zu den Eröffnungsstücken des neuen Formats gekommen sind.

Livia Patrizi, Tänzerin, Choreografin und Gründerin des Projekts „TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen“, hat in den nächsten Monaten in der Etage unterm Dach des Podewil viel vor. Wer die Italienerin trifft, merkt schnell, wie sehr ihr die Vermittlung des Tanzes am Herzen liegt. Eine ihrer Ideen hat bereits voll in der Berliner Schullandschaft eingeschlagen. Seit 2005 gibt es TanzZeit-Klassen, in denen unter professioneller Anleitung Unterricht in zeitgenössischem Tanz stattfindet. Wer sich bereit fühlt, kann bei den jährlichen Werkstattpräsentationen vor Publikum auftreten. Die Bilanz nach zehn Jahren kann sich sehen lassen: Mehr als 650 Berliner Schulklassen mit rund 15.000 Schüler*innen haben sich auf das Tanzexperiment eingelassen.

„Lernen in der Schule funktioniert oft über die gleichen Kanäle“, findet Patrizi, „Tanz bietet eine andere Form des Begreifens und Wahrnehmens.“ Videos auf der Projekt-Website zeigen, wie Kinder lernen, sich fallen zu lassen, sich auf den Händen zu tragen oder ihre ganz eigene Bewegungssprache zu entwickeln. Der Eifer, mit denen die Kids bei der Sache sind, führt plastisch vor Augen, was wissenschaftliche Untersuchungen nur in trockene Zahlen gießen können. Tanz fördert die Lern- und Konzentrationsfähigkeit und ist vor allem auch eins: ein prima Rezept gegen Langeweile. Und noch ein anderer Aspekt ist wichtig, der Zugang zur Kunst. „Viele Kinder kommen nicht ins Theater, der einzige Weg führt über die Schulen.“ Wenn man merke, dass plötzlich Türen aufgehen, seien das beglückende Momente, freut sich Patrizi.

Ausruhen auf den Erfolgslorbeeren möchte sich das TanzZeit-Team nicht. Ein „Laboratorium“ nennt Patrizi das, was rund um die TanzZeit-Klassen noch entstanden ist: 2008 kam die Jugendcompany Evoke hinzu, der monatliche Tanztreff Club Oval wurde ins Leben gerufen, die Tanzspielzeit Podewil ist ihr jüngstes künstlerisches Baby. Denn während im Theaterbereich permanente Angebote für Kinder und Jugendliche bestehen, wie etwa das Grips-Theater oder das Theater an der Parkaue, fehlen dem zeitgenössischen Tanz feste Aufführungsstrukturen. Die Tanzspielzeit Podewil soll in fünf Veranstaltungsblöcken bis Januar 2017 einen ersten Grundstein mit zehn Stücken legen.

Die meisten Cho­reo­gra­f*in­nen, die im Boot sind, haben selbst Unterrichtserfahrung. So wie Ulrich Huhn und Ante Pavić. An den TanzZeit-Klassen schätzen sie die Überraschungsmomente. „Kinder, die ganz zart oder schüchtern sind, bekommen im Arbeitsprozess plötzlich eine Strahlkraft, die selbst ihre Lehrer erstaunen“, erzählt Huhn. Nun heißt es für die Profi­tänzer, von der Bühne aus Input zu senden. Unter dem Motto „Beruf: Tanz“ geben sie Einblicke in ihr Metier.

Tanz ist vor allem auch eins: ein prima Rezept gegen ­Langeweile

Ante Pavić stülpt sich dafür in seinem Solo gleich drei Identitäten über: Felix Mathias Ott, Grayson Millwood und Josephine Evrard, allesamt Tanzkollegen und Freunde, liefern die biografischen Schnipsel, mit denen er jongliert. „Aua: Eine Ode an das Spiel, den Zauber und den Schmerz“ von Ulrich Huhn wiederum entfaltet minimalistischen Charme, wenn der Performer Francisco Cuervo entlang einer Raumdiagonale vorführt, was es bedeutet, sich vor Publikum zu exponieren.

Was beim Betrachten sofort auffällt: Die Darbietungen kommen ganz ohne pädagogischen Fingerzeig und kindliche Verniedlichung aus. „Man muss kein Maikäferballett einstudieren, um etwas zu zeigen, was ihnen gefällt“, bringt Huhn das Arbeitscredo auf den Punkt. Die Choreografenriege hat ein buntes Paket für die nächsten Monate geschnürt. Für Mai stehen schon Grayson Millwood und Josep Caballero García in den Startlöchern. Millwood tanzte lange für Sasha Waltz. In „Collaboration“ bringt er eine wichtige Facette ins Spiel, nämlich immer wieder künstlerische Kooperationen zu knüpfen. „Ich bin doch mehrere“ von García dreht sich um die Vielfalt der Rollen und kulturellen Identitäten, die zum Bühnenleben gehören. Das dürfte vielen Kindern und Jugendlichen mit multikulturellem Background bekannt vorkommen, Anschlussfähigkeit also garantiert.

Annett Jaensch

Aufführungen: 25.5./27. 5. 10.30 Uhr; 27. 5. 19 Uhr; 28. 5. 17 Uhr im Podewil, Klosterstr. 68