Berliner Szenen
: An der Straße

Daumen raus

Das Konfliktmanagement im Hirn ist überfordert

Der Große ist schon wirklich groß: Die Zahnspange ist draußen, die Kieferorthopädin zufrieden. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass wir soeben den Zug verpasst haben. Und auf dem Land ist es nicht wie in der Hauptstadt, in der alle fünf Minuten die U-Bahn einfährt und im Winter über das Luxusproblem „vereiste Schienen, der Zug verspätet sich um zehn Minuten“ empört am Bahnsteig und in den Gazetten diskutiert wird.

In der Provinz fährt der Zug alle Stunde. Der Bus auch. Allerdings zur gleichen Zeit wie der Zug.

„Früher war alles anders, da hat man sich an die Straße gestellt und den Daumen rausgehalten“, denke ich und sage laut: „Wir könnten trampen! Hast du das schon mal gemacht?“ „Nein, sagt der 17-Jährige, „aber können wir gerne“. Sagt’s und stellt sich an die Straße, die zur Stadt rausführt. Ich halte mich im Hintergrund und schaue mir die Autos und die Fahrer an. Die Fahrer gucken komisch. „Bestimmt nicht wegen meinem Sohn“, denke ich mir. „Ob sie uns für ein Pärchen halten? Oder für Mutter und Sohn?“ Egal was, es war mir schon lange nichts mehr peinlich, aber jetzt beginne ich mich unwohl zu fühlen.

Vor vier Jahren bin ich das letzte Mal getrampt, im Ausland, mit meinem Mann. Irgendwie fühlt sich das hier anders an. Es stehen auch sonst nie Leute an der Straße und halten Autos an. Das macht man hier nicht. Schon gar nicht eine mittelalte Mutter mit ihrem fast erwachsenen Sohn. Das Konfliktmanagement im Hirn ist überfordert. Soll ich mich von ihm auslachen lassen und aufgeben, weil es mir peinlich ist? Soll ich weiter hier stehen und demnächst mitleidig von entfernten Bekannten angesprochen werden, ob mein Auto kaputt sei?

Plötzlich erscheint Freundin K. Mit rotem Auto. Ich muss nichts sagen. Ihr Blick verrät es: Sie weiß, dass sie mein rettender Engel ist.

Das nächste Mal setze ich mich ins Café und warte auf den Zug. Elke Eckert