Flirrende Gefühle und singende Lerchen

VOCALS Die kosmopolitische Berliner Sängerin Defne Sahin interpretiert Jazzstandards und Werke des American Songbook auf ihrem Album „Unravel“ umwerfend gut. Am Sonntag stellt sie es im A-Trane vor

Frei wie ein Vogel und ziemlich toller Jazz: Defne Sahin Foto: Isabel Gandia

Von Franziska Buhre

Auf dem Tempelhofer Feld singen sie wieder nach Kräften: Feldlerchen, die, im Gras verborgen, der Weite von Fläche und Firmament eine flirrende Tonspur verleihen. Als Defne Sahin in den späten Achtzigern am Platz der Luftbrücke den Musikunterricht besuchte, lag die Hymne des Jazz an diesen Vogel für sie noch in weiter Ferne. Die Schließung des Flughafens war allenfalls Zukunftsmusik. In „Skylark“, 1941 vom Hitgaranten-Duo Johnny Mercer und Hoagy Carmichael verfasst, beflügelt die Feldlerche den Wunsch des oder der Singenden nach florierenden Gefühlen zu einem anderen Menschen, irgendwo im Einzugsgebiet des Vogels.

Wurde „Skylark“ allzu oft verschnulzt und mit einem klebrigen 4/4-Takt verschleppt, singt Defne Sahin in ihrer Version im Aufwind eines regen 6/8-Takts herzerfrischend luftig. Sie hat den Song für sich und ihre Band neu gestaltet und arrangiert, zu hören ist er auf ihrem neuen Album „Unravel“. Aufgenommen hat sie es in New York mit fünf Musikern, die ihrem Gesang den nötigen Freiraum geben und sich auf die intuitive Verständigung mit ihr einlassen. Der Aufnahme ist gegenseitige Vertrautheit anzuhören, Sahins Stimme und die Instrumente klingen plastisch und zum Greifen nahe.

Die Sängerin hat drei Jahre in New York gelebt, 2015 kehrte sie zurück nach Berlin. „In den USA ist es viel selbstverständlicher, einen Song so zu spielen, wie er ist“, erzählt Sahin beim Gespräch in einem Schöneberger Café. „Ich habe dort einen besseren Zugang zu Jazz und Standards finden können, was hier leider etwas verpönt ist. Für mich war es sehr schön, wieder simpler zu werden und aus dem Prozess heraus Ideen entstehen zu lassen. In New York habe ich Stücke komponiert, lange mit mir herumgetragen und mit verschiedenen Bands probiert. Das Album reflektiert diese Phase.“ Zuvor lebte Defne Sahin ein Jahr lang in Istanbul, die Semesterferien während des Studiums am Jazz-Institut Berlin hat sie genutzt, um in einem Projekt für Kinder in Brasilien zu arbeiten, nach dem Abitur war Sahin für ein halbes Jahr in Barcelona.

Zu Gast in Philadelphia

Geboren ist sie 1982 in Berlin, in Kreuzberg und Neukölln ist sie aufgewachsen. Als Kind profitiert sie vom Musikangebot an der Lenau-Grundschule und der Musikschule Paul Hindemith; das bilinguale Gymnasium in Charlottenburg hat zwar keinen Musikschwerpunkt, ermöglicht ihr 2001 aber ein Gastjahr in Philadelphia. Dort singt sie jeden Tag, ob in einer Vocal Group, im Chor oder zum ersten Mal mit einer Bigband. Jazz ist ihr neu, HipHop und R&B waren ihr näher. Wieder in Berlin, hat sie Gesangsunterricht bei Deborah Harrison an der Musikschule Schöneberg, danach bereitet sie sich bei Daniel Mattar und der Jazzpianistin Julia Hülsmann an der Musikschule Charlottenburg auf das Studium vor.

„Meine besten Ideen, sind die simplen Ideen.“ Defne Sahin

Bei der Aufnahmeprüfung wird sie gebeten, ein Lied auf Türkisch zu singen. Warum nicht auf Portugiesisch oder Spanisch, fragt sie sich. Defne Sahin kennt türkische Pop- und Folksongs von den Sommerurlauben mit ihren Eltern, außerdem spielt ihr Vater die Langhalslaute Bağlama, ihre Mutter Mandoline. Dass es möglich und sogar erwünscht sein könnte, die türkische Sprache in ihre Musik zu integrieren, war für Defne Sahin bis dahin ungewohnt. Am Jazz-Institut bestärken Judy Niemack und der Professor für Komposition, David Friedman, sie darin, türkische Texte zu vertonen.

Jazz und Poesie

Sie komponiert Musik zu Gedichten des türkischen Lyrikers Nâzım Hikmet. Aus diesem Material bildet Sahin ihr Debütalbum, das sie mit einem Trio aufnimmt. 2012 ist „Yaşamak. To Live with the Words of Nâzım Hikmet“ beim Istanbuler Label Kalan erschienen. Nach Abschluss ihres Studiums widmet sie sich der Tradition der Aşıks, fahrenden Sängern und Geschichtenerzählern, die sich mit der Bağlama begleiten. In New York lernt sie den israelischen Pianisten Guy Mintus kennen, der sich intensiv mit türkischen, sephardischen und griechischen Folk beschäftigt hat. „Er hört Musik ganz ähnlich wie ich. Aus der Vorlage von Volksmusik will ich etwas eigenes entwickeln, mit Mintus hat das perfekt funktioniert.“ In Istanbul arbeitet das Duo derzeit an einem Album, Sahin ist noch bis Ende Juni Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya. Türkische Musiker werden mit von der Partie sein, Konzerte in Israel und New York sind in Planung. Am Sonntag legt Defne Sahin für die Plattentaufe von „Unravel“ einen Zwischenstopp in Berlin ein.

Defne Sahin: „Unravel“ (Double Moon), live 24. 4., A-Trane, Pestalozzistr. 105, 21 Uhr