Hausbesuch Die Bonnets hatten eine Kinderarztpraxis in Reutlingen. Ärzte alter Schule sind sie. Der ganze Mensch ist wichtig. Ernährung, Umwelt, Psyche. Dass das zusammen gesehen wird, dafür kämpften sie
: Hauptsache, den Mund nicht gehalten

Magdalene und Eckhard Bonnet in ihrem Wohnzimmer. Sie spielen gerne Schach miteinander und widersprechen einander mit Leidenschaft

von Waltraud Schwab
(Text) und Boris Schmalenberger (Fotos)

Zu Besuch bei Magdalene und Eckhard Bonnet in Reutlingen. Beide sind 1937 geboren.

Draußen:Eine Einfamilien-hausgegend mit Zäunen, an manchen hängen vertrocknete Wicken vom letzten Jahr. Überall Obstbäume und Immergrünes. Die Häuser ducken sich an die Erde. Auch die Bonnets mussten ein Flachdach auf ihr holzverkleidetes Fertighaus setzen – war Vorschrift. Ihr Garten ist groß, viele Bäume, 35 Nistkästen, meint er. Sie widerspricht, sagt: Die Hälfte. Trotzdem: „So viele Vögel kommen nicht mehr: Mönchsgrasmücken, Nachtigallen, Dompfaff.“

Drinnen:Auch innen ist alles holzverkleidet, es scheint, als setze sich der Garten im Haus fort und das Haus sei eine Lichtung. Ein Holzofen im großen Wohnzimmer, Siebziger-Jahre-Funktionalität und Laisser-faire. An den Wänden Bücherregale und Bilder, von HAP Grieshaber – dem ortsansässigen Künstler mit seinen schweren, warnenden Holzschnitten, aber auch Großformatiges der Kinder.

Die Bonnets:Viele Reutlinger kennen sie: „Ah, der Bonnet.“ „Ah, die Frau Bonnet.“ Sie waren Ärzte in einer Hochhaussiedlung. Er Kinderarzt, sie Allgemeinmedizinerin. 1969 fingen sie an. 2001 hörten sie auf. Heiler der alten Schule sind sie, die Lebensverhältnisse, die Umwelt, die Ernährung – sie dachten es zusammen und regen sich auf, wenn das heute nicht getan wird. Die Bonnets sind Pioniere der Alternativmedizin, obwohl sie ihre Heilpraktikerqualifikation nicht einmal publik machten. Sie seufzen: „Ach, wenn die Schulmedizin doch die Komplementärmedizin ernster nähme.“ Oft widersprechen die beiden einander, aber das sagen sie wie aus einem Mund.

Nicht den Mund halten:Der Bonnet legte sich mit der Industrie an. „Pseudo-Krupp hatte mit der Luftverschutzung zu tun.“ Er sagte es auf Konferenzen und als Vorsitzender des Landesverbandes der Kinderärzte. Er wurde angegriffen wegen Verleumdung. Später rehabilitiert, als die Zusammenhänge nicht mehr zu leugnen waren.

Auch mit der Chemieindus-trie legte er sich an: „Als wir anfingen zu praktizieren, stellten wir vermehrt Hodenhochstand und andere Geschlechtsanomalien bei Jungen fest.“ Das müsse mit hormonaktiven Pestiziden wie DDT zusammenhängen, folgerte er. Die Chemieindustrie setzte alles daran, ihn mundtot zu machen – bis der Zusammenhang außer Zweifel stand. „Wir haben damals Muttermilch auf Pestizide untersuchen lassen. Das war Sondermüll. Die Kinder wurden damit gestillt.“

Quecksilbervergiftung bei Säuglingen durch das Amalgam in den Zähnen der Mütter thematisieren sie ebenso. „Der Urin der Kinder war verseucht.“ Zudem redeten sie gegen den Hygienehype der 70er Jahre an. „Kinder müssen mit der Bakterienwelt in Kontakt kommen, damit sich das Immunsystem entwickelt.“ Sich die Brustwarzen mit Alkohol abzureiben vor dem Stillen sei Blödsinn.

Der Arzt als Marionette

Warum heilen? Es hat mit der deutschen Geschichte zu tun und mit dem, was die Bonnets erlebten. Beide sind Kriegskinder. Magdalene Bonnet kommt aus einem Pfarrerhaushalt. Während der Nazizeit wohnten „eine Tante und ein Onkel aus Berlin“ bei ihnen. „Bis zum Ende des Krieges wusste ich nicht, dass es ein jüdisches Ehepaar war, das die Eltern versteckten.“ Der Vater gehörte zu einem Widerstandkreis württembergischer Pfarrer.

Eckhard Bonnet wiederum hat hugenottische Vorfahren, darunter welche, die die Fluchtrouten für verfolgte Gläubige organisierten. Einer wurde geschnappt und war lebenslang auf der Galeere. Dessen Sohn landete in Friedelsheim. „Ist aber alles lange her.“ Bonnets Vater, ein Großbauer, wollte guter Deutscher sein und war – bis er sich gegen die Enteignung der Bauern im Elsass wehrte – Landesbauernführer bei der NSDAP. Heilen wollen Eckhard und Magdalene Bonnet also die Menschen und das Unrecht.

Zusammenhänge: Keine 68er sind sie, aber die Bonnets gehören zu jenen, die begannen, den Muff unter den Talaren infrage zu stellen. In Heidelberg, wo sich die beiden beim Studium kennenlernten, schrieb Eckhard Bonnet eine Doktorarbeit über die Krebsrate bei Frauen, die durch Radiumeinlagen oder Röntgenstrahlen zwangssterilisiert worden waren. Er studierte bei Hans Runge, einem Gynäkologen, der während der Nazizeit genau solche Sterilisationen an Gefangenen durchgeführt hatte. Erst im Laufe der Zeit begriff Bonnet die Zusammenhänge. „Ein anderer, der Professor Hans Schaefer, in Physiologie, der hat auch an Menschenversuchen in der Nazizeit mitgemacht“, erzählt Magdalene Bonnet, „später hat er Ethikvorlesungen gegeben.“ Die Professoren waren hochgeachtet nach dem Krieg. Die Bonnets gehören zu denen, die Nein zu sagen lernten, aber das Neinsagen war noch keine Bewegung, die kam ein paar Jahre später.

Genau hingucken: Wie der Bonnet an Sachen rangeht, zeigt diese Geschichte: Er behandelte behinderte Kinder und sah, dass sie im Turnen schlechte Noten bekamen, weil sie an den Leistungen der Nichtbehinderten gemessen wurden. Er initiierte, dass der TSG Reutlingen, der Turn- und Sportverein, eine Behindertensportgruppe gründete und die Benotung vorgibt. „Da hat ein Junge, der sonst nur Fünfen hatte, dann auf dem Trampolin den Salto gekonnt. Ich sehe bis heute das stolze Kind.“

Eid des Hippokrates: „An den haben wir uns gehalten“, sagt er. Aber auf den müsse man heute ja nicht mehr schwören. „Heute dürfen sie in ihrer Praxis Menschenversuche machen – wird ja auch gemacht, bei Psychopharmaka, beim Doping“, sagt er.

Das Haus duckt sich an die Erde

Kassandra: Ihm sei schon viel angehängt worden, meint Bonnet. Er war ein „radikaler Roter“, ein „chaotischer Grüner“, ein „verbohrter Konservativer“, ein „Panikmacher“, der Fortschritt und Technik madigmachen wolle und eine „wirklichkeitsfremde Kassandra“. Sein Fazit: „Ich habe nicht den Mund gehalten, aber auch fast nichts bewegt“. Hauptsache : Nicht den Mund halten. „Wenn die Kinder sagen, dass das gut ist, dass wir uns wehren, dann haben wir doch was erreicht“, sagt sie.

Spielen: Dass die Armut größer wird und auf der anderen Seite auch der Reichtum, finden die Bonnets einen Skandal. Dass Lobbyisten den Politikern auf dem Schoß sitzen, ebenfalls. Fernsehen schauen sie nicht mehr. Zu schlecht. Sie mischen sich jetzt nur noch selten ein, spielen lieber Schach. „Wir sind ganz arg verspielte Leute“, sagt sie.

Politiker:Auch dass Politik ein Karriereding geworden ist und es nicht mehr um Haltung und Ethik geht, sondern um Profit, finden sie skandalös. Die Merkel tauge gerade noch zum Sichaufregen. Nur der Kretschmann, der sei eine Ausnahme, weil er ehrlich sei: „Dem würde ich mein Geld zum Verwahren geben“, sagt sie.

Alt sein und vielleicht bald sterben: „Ach, wissen Sie“, sagt er, „wenn Sie gut gegessen haben und satt sind, dann schlafen Sie gerne ein. Wenn Sie lebenssatt sind, auch.“