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600 Jahre fremd in Deutschland

Antiziganismus Am 8. April ist Roma Day. Zum 45. Jubiläum des Internationalen Roma-Tags finden neben Kulturveranstaltungen und Diskussionen zwei Kundgebungen statt

Blumenniederlegung am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Foto: F.: Nihad Nino Pušija

von Sybille Biermann

Das Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas, ein breit gefächerter Zusammenschluss von Akteuren aus der Mehrheitsgesellschaft und Roma- und Sinti Verbänden, lädt bereits am Freitag um 12 Uhr in den Simsonweg, unweit des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Auch der Bundespräsident sowie Prominenz aus Politik und Gesellschaft werden anwesend sein. Um 15 Uhr rufen der Bundes-Roma Verband und die Initiative My Right is Your Right auf dem Pariser Platz zu einer politischen Kundgebung auf. Beiden Kundgebungen gemeinsam ist der Wunsch, lauter und sichtbarer als in vergangenen Jahren auf Antiziganismus hinzuweisen und sich mit den Betroffenen zu solidarisieren. Das ist auch nötig, denn Roma sind die am stärksten diskriminierte Minderheit in Europa – mit steigender Tendenz – und dennoch kaum mit staatlichem Schutz bedacht.

Das Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas kommt dieses Jahr zum ersten Mal zusammen. Wie kam es dazu?

Veronika: Zusammen mit der Stiftung Denkmal initiierten wir bereits 2013 das Gedenken an den 2. August, den Tag, an dem im „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz-Birkenau 3.000 Menschen ermordet wurden. In der Organisation des Roma Day kooperieren wir bereits seit 2015. Während dieser Zusammenarbeit entstand die Idee zu einem breiten Bündnis, das die Mehrheitsgesellschaft einbezieht, ein Zeichen gegen Antiziganismus zu setzen. Das bedeutet einen Durchbruch.

Jana: Neben der Kundgebung gibt es auch einen Aufruf in 36 europäischen Sprachen, der jetzt seit einigen Wochen bei Change.org online ist. Wir fordern darin alle europäischen Staaten auf, klar Stellung gegen Antiziganismus zu beziehen und für Gleichberechtigung einzustehen – es gilt aufzubrechen, dass immer nur Sinti und Roma selbst in der Verantwortung sind, auf Antiziganismus hinzuweisen.

Und die zweite Kundgebung?

Veronika:Bei der zweiten Kundgebung war uns die Sichtbarkeit aller von Rassismus betroffenen Gruppen wichtig. Es ist eingenereller Protest gegen die Asyl- und Abschiebepolitik der Bundesregierung und ein Zeichen gegen die Spaltung „gute Flüchtlinge – schlechte Flüchtlinge“.

In eurem Aufruf schreibt ihr, dass Antiziganismus nicht nur fortbesteht, sondern immer breitere Akzeptanz findet.

Veronika: Es gibt wissenschaftliche Aussagen dazu, dass der Antiziganismus auf einer ähnlichen Stufe ist wie in den 1920ern. Das ist erschreckend. Diese Entwicklung gibt es seit gut zehn Jahren, und sie geht mit dem allgemeinen Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft einher. Zum Beispiel die Debatte über die Silvesternacht in Köln. Im Anschluss konnte man im Deutschlandfunk eine höchst suggestive Frage des Moderators hören, ob denn der Vorsatz, die Herkunft von Tätern nicht zu benennen, solange sie nicht tatrelevant ist, eine politisch gewollte Täuschung sei. Als Erklärung dafür wurde eine Beschwerde des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma genannt. Die gründete sich damals darauf, dass in den polizeilichen Akten die Herkunft „Sinti oder Roma“ erfasst wurde. Das ist doch nicht hinnehmbar, dass Racial Profiling im öffentlich-rechtlichen Rundfunk quasi verteidigt wird! Das ist für mich nichts anderes als „Zigeunerlisten“. Das geht es um ethnische Profilierung, und die war in Deutschland immerhin einmal ein Instrument des Völkermords.

Jana: Eines der Roma-feindlichen Stereotype geht ja von einer pauschalen Kriminalitätsneigung aus. Angefangen hat das mit der sogenannten Zigeunerkartei der Münchner Kripo im ausgehenden Kaiserreich. Dieses System wurde von den Nazis aufgegriffen, und auf Grundlage dieser Datenerfassung kam es dann zu Deportationen. Aber es gibt auch die romantisierende Variante von Antiziganismus. Ein prominenter Journalist zum Beispiel beantwortete unsere Anfrage um Unterstützung mit „Sinti und Roma leben unsere Träume. Als Jugendlicher fühlte ich mich als einer von ihnen.“ Er wollte dennoch nicht mitmachen. Da weiß man dann auch nicht mehr, was antworten. Welche Träume denn? Hat er denn den Wunsch, in Armut zu leben oder gar überhaupt keine Wohnung zu finden? Auf Campingplätzen und in Restaurants abgewiesen zu werden, bei denen man zuvor mit seinem deutschen Namen reserviert hatte? Sinti zum Beispiel sind die Minderheit, die am längsten in diesem Land lebt – seit über 600 Jahren. Es gibt diesbezüglich ein riesiges Bildungsdefizit.

Im Interview: Veronika Patockova (28) ist im Vorstand des Vereins Roma Trial. Dort konzentriert man sich neben Bildungs- und Kulturarbeit für Roma auf Aufklärung der Mehrheitsgesellschaft über Antiziganismus.

Jana Mechelhoff-Herezi (37) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und dort zuständig für den Bereich Erinnerung an Sinti und Roma.