Vergammeln lassen als Kulturleistung

SÜSSWEINE „Lieblicher“ Wein hat mit einem echten edelsüßen nichts zu tun. Um den konzentrierten Geschmack zu erhalten, müssen die Beeren entweder dem Edelschimmel oder dem Frost anheim fallen. Bei der Eisweinernte an einem Stuttgarter Weinberg

■ Der Edelfäule-Pilz Botrytis cinerea erzeugt auf unreifen Weinbeeren die gefürchtete Rohfäule. Die befallenen Trauben bleiben unreif und sind unbrauchbar. Wenn sich die „Grauschimmelfäule“ bei trockenem, warmem Herbstwetter auf reifen Beeren ausbreitet, ist sie ein Segen. Der Pilz durchbohrt die Beerenhaut, so kann Wasser verdunsten, während die restlichen Inhaltsstoffe – Zucker sowie die traubeneigenen Geschmacks- und Aromastoffe – in der Beere bleiben. Das ist die Edelfäule.

■ Für das Sauternes, an der Spitze Château d’Yquem, gilt die Regel: Mindestalkoholgehalt 13 Prozent. Die Rebsorten sind: Sémillon, Sauvignon Blanc und Muscadelle. Hoher Aufwand, extrem niedrige Erträge, exorbitante Preise.

■ Tokajer kommt aus Nord-Ungarn, wird aus Trockenbeeren, die durch Botrytis entstanden sind, gemacht. Rebsorten: Furmint, Lindenblättriger, Gelber Muskateller und Zéta. Das Gewaltigste ist Tokaji Eszencia, manche sprechen von Arznei.

■ Beeren- und Trockenbeerenauslesen (TBA): Von Hand gelesen, müssen sie in Deutschland mindestens 150, in Österreich 156 Grad Oechsle haben. Die Beeren sehen aus wie Rosinen. Die Weine haben nur fünf bis acht Prozent Alkohol, im besten Fall eine große Menge an unvergorenem traubeneigenem Zucker und eine brillante Säure. Eine gute TBA ist bernsteinfarben, ihre Haltbarkeit liegt bei 100 Jahren und mehr. Rebsorte: Riesling.  ROR

VON ROGER REPPLINGER

Oben, am Wengert, steht ein tuckernder Traktor und liefert Licht, damit die Leut’, die vor den Rebstöcken stehen, was sehen. Mitten in der Nacht. Die ist klar, sonst wäre es nicht so kalt, und das ist es. Die Funzeln am Himmel reichen nicht und der Mond ist neu.

Muss kalt sein, sonst ginge das nicht: Eisweinlese. Mindestens minus acht Grad Celsius sind notwendig. Stabil. Da gibt es einen bei der Weingärtnergenossenschaft Rotenberg, die heute „Collegium Wirtemberg“ heißt, ein paar Kilometer östlich von Stuttgart, der jeden Morgen aufs Thermometer guckt, nicht auf das auf seiner Veranda, sondern auf das von der Wetterstation im Weinberg, der hier „Wengert“ heißt, und der Winzer „Wengerter“, und dann entscheidet, ob er die Leute aus dem Schlaf holt oder nicht. Heute entschied sich Martin Kurrle, der Kellermeister, fürs Holen.

Alle treffen sich in der Kelter. Es riecht nach Bett, aus dem wir gerade gekrochen sind, die Gesichter sind faltig. Es gibt einen Schnaps. Der Schnaps macht für einen Moment warm, und du ziehst deine erste Jacke aus, und dann noch eine.

Dann trotten die ersten los, und du ziehst deine Jacken wieder an und gehst hinterher. Vorbei an der Weinpresse, die auch im Freien steht, denn es ist alles umsonst, wenn das Wasser in den verschrumpelten Beeren taut, weil die Presse warm ist, weil es drinnen, in der Kelter, warm ist. Im übrigen ist es keine Presse, sondern eine Raspel, denn gepresst werden können die gefrorenen Beeren nicht.

Die Wengerter treiben den ganzen Aufwand, um das gefrorene Wasser in den Beeren von einem Extrakt aus Zucker, Alkohol und Geschmacksstoffen zu trennen, der trotz der Kälte flüssig bleibt. Sie lassen die Beeren hängen, während alles andere gelesen wird. Sie schimpfen mit den schleckigen Vögeln, die sich die süßen Beeren – je süßer, desto länger sie hängen – holen, jammern um alles, was auf den Boden fällt, zagen, wenn es regnet, reiben sich die Hände, wenn es friert, raufen sich die Haare, wenn es taut.

Nur damit das Wasser in der Beere zu Eis gefriert, während Zucker und Alkohol und Extraktstoffe flüssig bleiben. Das ist Chemie. Weil am Stock nicht viel übrig bleibt und es eine Sauarbeit ist, das Zeug zu lesen, kostet Eiswein ein paar Kreuzer mehr.

Auf dem Fahrt zum Rotenberg hab’ ich mir überlegt, was es für eine Kulturleistung ist, Trauben zu vergären, und welcher Schritt es ist, verfaulte Trauben, die von der Botrytis cinerea befallen sind, nicht wegzuschmeißen, sondern daraus edelsüße Weine zu machen, etwa Tokajer und Trockenbeerenauslesen, und Trauben erfrieren zu lassen, um Eiswein draus zu machen. Dagegen sind Autos, die da unten im Tal gebaut werden – pah?

Wir haben alle die dicksten langen Unterhosen an, mehrere Schichten Oberbekleidung, Mützen, die über die Ohren reichen, und Handschuhe – was die Arbeit mit den Scheren, mit denen wir die Trauben abschneiden, nicht einfach macht. Wir dürfen beim Lesen nicht trödeln, denn vor Tagesanbruch wird es kurz kälter, dann, wenn die Sonne aufgeht, wärmer. Trotzdem muss irgendwann die Thermosflasche aufgemacht werden mit dem Kaffee, der dampft, und die Guck, also die Tüte, mit den Weckle (Brötchen) und den Peitschenstecken (Landjäger) aufgerissen werden.

Weil es eine Sauarbeit ist, das Zeug zu lesen, kostet Eiswein ein paar Kreuzer mehr

In der Schwärze des Himmels gibt’s ein paar graue Striche. In den Eimern liegen ein paar Beeren, wenn ich scharf nach oben gucke, sehe ich auf dem Gipfel des Württembergs die Grabkapelle, die seit 1824 hier steht. Hier stand mal die Burg Wirtemberg, 1083 erbaut, Stammburg des Hauses Württemberg.

Die Kapelle wurde für Katharina Pawlowna (1788–1819) errichtet, die zweite Frau Wilhelms I. von Württemberg (1781–1864). König Wilhelm I. und ihre gemeinsame Tochter Marie Friederike Charlotte von Württemberg (1816–1887) liegen ebenfalls dort. In der Zeit wurde der Württemberger ins Ausland exportiert, nach Russland und was weiß ich wohin. Dann begann der Niedergang.

Seit 20 Jahren achten Wengerter wie Martin Kurrle auf Qualität. „Da gehört ein Eiswein dazu“, sagt er, als wir an der Raspel stehen, und gucken, was da abfließt: eine grünbraune Brühe mit so viel Oechsle, dass keine Hefe sie vergären kann. Deshalb bleibt die Gärung stehen, der Wein bekommt wenig Alkohol und bleibt süß. Ideal für bestimmte Käsesorten, Gänseleber, Desserts, oder mal so. Gerade für Leute, die trockene Weine trinken.

„Würd mer net glauba, dass es schmeckt, so wie des aussieht“, sagt Kurrle, als wir die Brühe angucken, die aus der Raspel kommt. „Noi“, sagte ich. „Nemma mer no oin?“, fragt Kurrle. „Klar“, sage ich.