GARTEN Die Erforschung des Weißdorns als Lebensaufgabe:
In der Insel-Bücherei erscheint ein bibliophiler Band über die Flora aus Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
: Verehrer alles Blühenden

Es gibt keinen kunstvoll bepflanzten Garten von Marcel Proust, der sich besuchen ließe. Darin ist ihm Virginia Woolf, die in schriftstellerisch-poetischer Hinsicht als sein britisches Pendant gelten darf, dann doch überlegen. Der Autor der „Suche nach der verlorenen Zeit“ hatte seine liebe Not mit Pflanzen, insbesondere mit Blumen und Sträuchern, mit den Pollen, die sie an die Luft abgeben – litt er doch an starkem Asthma. Dennoch verehrte er alles Blühende, ganz gleich, ob es sich um „extrovertierte“ Rosen und Lilien handelte oder um bescheidenere, in sich gekehrte Schönheiten wie das Vergissmeinnicht, das ja schon aufgrund des Namens in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ unbedingt vorkommen musste. Auch die Franzosen nennen die Myosotis „ne m’oubliez pas“.

Prousts Garten ist ein literarischer Garten. Liest man sich durch sein Opus Magnum, sind es neben den großen Pariser Boulevards, namentlich den Champs-Élysées, vor allem die idyllischen Landschaften in der Provinz, im winzigen nordfranzösischen Städtchen Combray zumal, und die ländliche Flora, die mit Bedeutung aufgeladen werden. Der Weißdorn ist als Auslöser unwillkürlicher Erinnerung, der leitmotivischen Triebfeder des gesamten Romanzyklus, kaum weniger signifikant als die noch berühmtere Madeleine. „Die Erforschung des Weißdorns bei Proust kann gut und gern zur Lebensaufgabe werden“, schrieb einmal die von Proust begeisterte Lyrikerin Marion Poschmann und übertreibt dabei kaum.

Die Romanistin Ursula Voss, Gründungsmitglied der Marcel-Proust-Gesellschaft, hat nun allerdings den „Flieder im Garten von Combray“ als Titel für einen bibliophilen Band der Insel-Bücherei auserkoren. Neben einem kenntnisreichen Vorwort der Herausgeberin besteht er im Wesentlichen aus Romanpassagen, in denen Proust den idealisierten Blumen und Pflanzen seine Aufmerksamkeit schenkt – den Rosen im Atelier des Malers Elstir, dem Kastanienbaum im Garten des Kindheitsdomizils, Kornblumen, Mohn und Apfelbäumen in der Gegend von Guermantes und natürlich den Fliederbüschen und Weißdornhecken auf dem Weg nach Méségl­ise.

All diese Zitate entstammen der „Recherche“. Aus dem Kontext genommen, entwickeln sie geradezu lyrischen Charakter. Die Naturbeschreibungen stehen für ein Ideal – dasjenige der verlorenen Vergangenheit. Die Rede ist sogar vom „Flor des Paradieses“. „Ob nun der schöpferische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirklichkeit sich nur aus der Erinnerung formt, jedenfalls kommen mir die Blumen, die man mir heute zum erstenmal zeigt, nicht mehr wie richtige Blumen vor“, schreibt Proust sentimentalisch. An die Seite gestellt sind solchen Reflexionen diverse Blumengemälde von René Magritte, Édouard Manet, Claude Monet und anderen Malern, die im Werk eine Rolle spielen.

Das Vergissmeinnicht musste vorkommen – schon wegen des Namens

„Der Flieder im Garten von Combray“ ist kein Gartenbuch wie Caroline Zoobs und Caroline Arbers wunderschöner Bildband über Virginia Woolf und ihren Sussexer Wohnsitz Monk’s House („Der Garten der Virginia Woolf“). Aber es ist ein Buch, das genauso zur Kontemplation einlädt. Alle Zeichen stehen darin auf Entschleunigung. Tobias Schwartz

„Der Flieder im Garten von Combray. Marcel Prousts ­Blumen.“ Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Ursula Voß. Insel Verlag, Berlin 2016, 120 Seiten, 13,95 Euro