Der Tugendwächter

Imperium Philosoph Michel Eltchaninoff sucht „In Putins Kopf“ nach den ideologischen Bezügen des russischen Herrschers

von Barbara Kerneck

Wer wüsste nicht gern, wie Wladimir Putin tickt? Autor Michel Eltchaninoff ist allerdings weder Neurologe noch Psychiater, sondern Philosophiedozent und Chefredakteur der Pariser Monatszeitschrift Philosophie Magazine. Sein Buch „In Putins Kopf“ widmet sich dem von findigen Beratern gezimmerten philosophischen Gebäude über der Politik des russischen Präsidenten. Dieser Teil seines Images ist Putin wichtig. Zum Neujahrsfest 2014 schickte er seinen hohen Beamten Pakete voller Philosophiebücher. Sie sagen zwar wenig über seine persönlichen Antriebsmomente aus, umso mehr aber über seine Ziele.

Eltchaninoff erläutert verständlich die vom Kreml für Putin aufbereiteten Theorien und findet in ihnen eine Schnittmenge: „Die philosophischen Quellen des Putinismus, so verschiedenartig sie auch sein mögen, beruhen alle auf zwei Grundtendenzen: der Idee des Imperiums und der Apologie des Krieges“.

Hausphilosoph des Präsidenten war und ist Iwan Iljin (1883 bis 1954), ein eher marginaler Ideologe der Weißen Garden. Als Emigrant in Deutschland flirtete er vorübergehend mit den Nazis, musste aber trotzdem in die Schweiz fliehen, von wo aus er später Franco und Salazar pries. Für Russland hoffte er auf eine „nationale Diktatur“, deren „Führer dient, statt Karriere zu machen; kämpft, statt eine Statistenrolle zu spielen; den Feind schlägt, statt leere Worte zu verkünden; lenkt, statt sich ans Ausland zu verkaufen“.

Nachdem er sich zu Beginn seiner Amtszeit als Adept des westlichen Rechtsstaates gegeben hatte, vollzog Putin 2004 einen Ruck in Richtung Konservatismus. Seine Feindseligkeit gegenüber der westlichen Alltagskultur drückt er nun offener aus. Dieser Ton verschärfte sich, als nach den Wahlfälschungen des Jahres 2012 in Moskau Hunderttausende gegen ihn demonstrierten. Der Präsident begriff diese Kundgebungen als vom „dekadenten“ Westen orchestriert. Gegen diesen stützt er sich auf die russisch-orthodoxe Kirche. Nun wirbt er für angeblich speziell russische Werte wie die traditionelle Familie und kämpft gegen die „homosexuelle Kultur“.

Man kann das von Eltchaninoff vorliegende Buch auch als eine sachkundige Einführung in die Welt religiöser russischer Philosophen aus dem 19. Jahrhundert und vom Beginn des 20. Jahrhunderts lesen – die Putin oft einseitig missbraucht. Von den philosophischen Vertretern eines eigenen russisch-orthodoxen Weges schätzt der Präsident vor allem den Spengler-Vorläufer Konstantin Leontjew, Autor des Textes: „Der Durchschnittseuropäer. Ideal und Werkzeug universeller Zerstörung“.

Eine von Putins Kreis ebenfalls gern angezapfte Strömung aus jener Zeit sind die Slawophilen, die alle slawischen Völker unter Russland als Glucke vereinigen wollten. Für den Präsidenten am wichtigsten ist hier Nikolai Danilewski (1822–1885). Bei diesem bekam die Slawophilie eine soziobiologische Schlagseite. Er meinte, die Mobilisierung des Volkes im Krieg liefere den Nährboden für dessen Wiedergeburt, und erklärte die Osmose mit dem Herrscher zur moralischen Besonderheit des russischen Volkes. Letzterem spricht er eine besondere „völkische, ethnographische Energie“ zu, die förmlich danach schreit, sich im Kampf mit dem Westen zu verausgaben.

Der junge Wladimir Wladimirowitsch Putin (1991) Foto: reuters

Völkische Ideen

Gesprächspartnern aus China präsentiert sich der russische Präsident lieber als Vertreter einer „eurasischen Zukunftsidee“. Aktuell populärster Philosoph des Eurasismus ist in Russland der medienwirksam auftretende Alexander Dugin, gern gesehener Gast bei der extremen französischen Rechten. Putin stützt sich eher auf Nikolai Gumiljow (1912–1992), den Sohn der großen Lyrikerin Anna Achmatowa, den er noch persönlich kannte. Dieser glaubte an eine nur bestimmten Völkern gegebene „Passionarität“.

Eltchaninoff kann und will in seinem selbst gesteckten Rahmen nicht der Frage nachgehen, welche sozialen Bündnisse sich unter dem Patchworkmäntelchen der Putin’schen Staatsideologien verbergen. Immerhin zitiert er den heutigen Historiker Kirill Lipatow als Beobachter der bereits russischer Expansion anheimgefallenen Separatistenzonen in Südossetien und Abchasien (Georgien) sowie Transnistrien (Moldova): „In Regionen dieser Art, die von russischen Truppen beschützt werden, aber weder einen offiziellen Status noch institutionelle Stabilität haben, übernimmt umgehend das kriminelle Milieu die Macht.“

Michel Eltchaninoff: „In Putins Kopf.“ Aus d. Französischen v. T. Bardoux. Tropen, Stuttgart 2016, 192 S., 14,95 Euro