„Sie fühlen sich berechtigt, ihrem Zorn freien Lauf zu lassen“

Das bleibt von der Woche Rechte Straftaten nehmen in bedrohlichem Maße zu, beim Thema Ferienwohnungen müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen, Pankow bekommt ein neues Zentrum, und Kreuzberg behält sein Myfest

Rassisten haben Oberwasser

BILANZ RECHTE ÜBERGRIFFE

Vieles, was sich vorher nur Rechtsradikale trauten, ist jetzt auch für den Opa von nebenan sagbar

So schockierend die Zahlen sind, die Reachout am Dienstag vorgelegt hat, so wenig überraschend sind sie. 320 Angriffe hat die Beratungsstelle für Opfer rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt 2015 registriert, das ist gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um 80 Prozent. Aber hatte jemand etwas anderes erwartet, nach all dem Politikergeschwätz über diese „Lawine“ von kriminellen Flüchtlingen, die „unsere“ Werte und „unsere“ Frauen verachten?

Es liegt auf der Hand, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Worten und Taten von Politikern, die mit Asylrechts­verschärfungen am laufenden Band unser schönes Europa zu retten vorgeben, und deren WählerInnen, die sich darob legitimiert fühlen, ihrem „Volkszorn“ freien Lauf zu lassen. Reach­out hat diesen Zusammenhang zu Recht klar benannt.

Natürlich war auch vorher nicht alles eitel Sonnenschein. Doch seit Mutti Merkels „Wir schaffen das“ von ihren eigenen Leuten in der Luft zerrissen wurde, häufen sich die Vorfälle in eklatanter Weise. Vieles, was sich vorher nur Rechtsradikale trauten, ist jetzt auch für die brave Hausfrau, den Opa von nebenan, sag- und machbar.

Genau da liegt die größte Gefahr. Es geht nicht um ein paar Rechtsradikale. Es geht darum, dass immer mehr ganz „normale“ Leute ihre rassistischen Ressentiments offen ausleben. Und dass die jetzt mit der AfD eine Partei haben, die ihre „Sorgen“ artikuliert. Auch in Berlin wird es nach der Wahl im September vermutlich „Rechtspopulisten“ im Abgeordnetenhaus geben. So umstritten dieser Begriff ist, so passend ist er in diesem Zusammenhang: Rechts sein ist in der Tat populär. Susanne Memarnia

Auch mal in den Spiegel gucken

Gegen Ferienwohnungen

„Wie war das beim jüngsten Kurztrip nach London, Paris, Barcelona, Venedig?“

Ha, die sind ja auch unerhört, diese Touristen. Mieten sich da in besten Lagen in Ferienwohnungen ein, in denen viele Berliner gern ganz normal wohnen würden. Sie nerven mit ihren Rollkoffern, und im schlimmsten Fall machen sie die Nacht zum Tage und lassen Nachbarn nicht schlafen. Wie können die das nur verantworten, wissen die denn nichts von der Wohnungsnot in Berlin, von dem knappen bezahlbaren Wohnraum in der Innenstadt? Da ist sowohl das Gesetz mit dem kruden Titel „Zweckentfremdungsverbotsgesetz“ als auch seine Verschärfung, die der Bauausschuss des Abgeordnetenhauses diesen Mittwoch guthieß, nur zu begrüßen.

Aber wie war das beim jüngsten Kurztrip nach London, Paris, Barcelona, Venedig? Haben wir Berliner uns da Gedanken gemacht, dass wir mit unserer günstig gebuchten Ferienwohnung in ach so schön zentraler Lage genau dieselbe Entwicklung beschleunigen, die wir daheim kritisieren? Gut, wir haben den Nachbarn im Treppenhaus nett zugenickt, wir haben nicht rumgegrölt, wir haben keine Bierflaschen im Eingang stehen lassen.

Doch das wären ohnehin nur zusätzliche Ärgernisse für die Locals gewesen, am grundsätzlichen Problem hätte es nichts geändert. Im Kern sorgen wir mit unseren Ferienwohnungsbuchungen auf gleiche Weise dafür, dass sich auch normal verdienende Londoner, Pariser, Barceloner oder Vene­zianer dort, wo wir es so nett finden, keine Mietwohnung mehr leisten können. Und das gilt unabhängig davon, ob es in diesen Städten vielleicht, anders als jetzt in Berlin, keine Verbote oder Einschränkungen für Ferienwohnungen gibt. Es ist eine grundsätzliche Frage: Wo es keine Nachfrage nach Ferienwohnungen gibt, wandelt auch kein Eigentümer eine normale Mietwohnung für Touristen um.

Ach, das haben wir gar nicht gewusst? Nun ja, man muss kein Handelsblatt-Abonnent oder Immobilieninsider sein, um das mitzukriegen. Kaum ein London-Krimi kommt ohne Hinweis auf die dort schier unbezahlbaren Mieten aus. Und Donna Leon beweint in ihren „Kommissar-Brunetti“-Romanen seit Jahren, dass die enorm steigenden Mieten immer mehr Urvenezianer aufs Festland treibt.

Das alles ist kein Grund, den Kampf gegen den Ferienwohnungsboom in der Innenstadt nicht zu unterstützen – im Gegenteil. Es sollte uns bloß daran erinnern, dass wir unsere po­puläre Wir-sind-alle-gegen-Verdrängung-Haltung auch dann durchhalten, wenn wir selbst die Urlauber sind.

Stefan Alberti

Senator Henkel ist ein Partytiger

Myfest findet statt

Dieser kleine Neu­anfang ist auch eine Chance für die Myfest-Crew

Von wem stammt folgender Satz, und wer freut sich darüber: „Das Myfest soll wieder deutlich politischer werden.“? Von der linken Szene, ­Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne), oder Innensenator Frank Henkel (CDU)? Tatsächlich lautet die Antwort beide Male: Henkel. Verkehrte Welt? Nicht ganz.

Am Donnerstagabend verkündete die Pressestelle des Senators die De-facto-Einigung zwischen der Myfest-Crew und der Polizei: Die Riesenstraßenparty findet statt. Drei politische Versammlungen von 10 bis 22 Uhr sind für den 1. Mai in Kreuzberg angemeldet worden, zwei von den Organisatoren, eine von der Linkspartei, bestätigte ein Polizeisprecher. Letzte Gespräche, vor allem über das Sicherheitskonzept, sollen am Montag stattfinden. Auch wenn das noch mal heikel werden könnte, ist sich Myfest-Organisator Soner Ipekcioglu sicher: „Das Ding ist durch!“

Doch viele Fragen bleiben. Etwa: Was heißt „deutlich politischer“? Das hatte in den vergangenen Jahren auch die linke Szene gefordert, deren randaleanfällige „Revolutionäre 18-Uhr-Demo“ mit dem Fest erfolgreich aus dem Kiez verdrängt wurde. Von ihr war der Riesenrummel als Mega-Event kritisiert worden. Auch Anwohner beklagten dessen Auswüchse mit zuletzt rund 50.000 Besuchern rund um die Oranienstraße. Einer klagte sogar dagegen – die Verhandlung ist für Donnerstag angesetzt –, weil er den politischen Charakter der Sause nicht mehr erkennen konnte. Und weil es der Polizei genauso ging, gab es plötzlich ein Verantwortungsproblem: Wenn die Staatsmacht – die bei politischen Versammlungen laut Gesetz den Kopf hinhält – aussteigt, wer könnte sie ersetzen?

Nun tut sie es also doch weiterhin. Worauf ausgerechnet der Innensenator, der jeglicher Sympathie für die linke Szene und den grün regierten Bezirk gänzlich unverdächtig ist, gedrängt hatte. Denn Krawalle wie früher kann Henkel im Wahljahr nicht gebrauchen. Dieser kleine Neuanfang ist auch eine Chance für die Myfest-Crew, die Party inhaltlich nuancierter und eine Nummer kleiner zu machen. Sonst heißt es am Ende: Kreuzberg feiert von Henkels Gnaden. Und das kann wirklich keiner wollen. Bert Schulz

Von der Vorstadt
zur Stadt

Riesenbaugebiet in Pankow

Sind in der wachsenden Stadt Wohnungen nicht wichtiger als ein Park?

Pankow bekommt ein neues Zentrum. Das haben Bausenator Andreas Geisel (SPD), Baustadtrat Jens-Holger Kirchner (Grüne) und Investor Kurt Krieger am Dienstag bekannt gegeben. Auf dem Gelände des einstigen Güterbahnhofs zwischen den Bahnhöfen Pankow und Heinersdorf entstehen ein Einkaufszentrum, tausend Wohnungen, zwei Schulen, zwei Möbelmärkte und ein Bau- und Gartenmarkt. Womit die Frage aufgeworfen ist, was für ein Zentrum das eigentlich ist, auf das sich Bezirk, Senat und Investor nun geeinigt haben.

Es ist, um es vorwegzunehmen, das einzige, das diesen Namen verdient hat. Anders als von Krieger ursprünglich geplant, wird das Einkaufszen­trum nicht im Nowhere zwischen den Bahnhöfen gebaut, sondern unmittelbar am Bahnhof Pankow. Damit entfällt auch der Bau einer Straße, die das Gelände durchschnitten hätte. Tausend Wohnungen bedeuten zudem, dass Leben auf das Gelände kommt. Das Pankower Tor, mit dessen Bau in zwei Jahren begonnen werden könnte, ist also ein Projekt der Verdichtung.

Dieser Verdichtung, sagen nun Kritiker, fiel ausgerechnet ein Park zum Opfer, den Krieger im ersten Entwurf noch vorgesehen habe. Aber, Hand aufs Herz: Was wäre das für ein Park gewesen zwischen Möbelhaus und Einkaufswelten? Wäre man da nicht lieber weiterhin in den Bürgerpark oder den Schlosspark gegangen? Und sind in der wachsenden Stadt Wohnungen und Schulen nicht wichtiger in einem Kiez, dem es an Grün wahrlich nicht fehlt?

Pankow, Berlins am schnellsten wachsender Bezirk, wird mit dem Pankower Tor endgültig von der Vorstadt zur Stadt. Ob es mit dem neuen Zentrum aber auch ein Stück neue Stadt bekommt, ist offen: Vieles hängt davon ab, ob die 30.000 Qua­drat­meter Einzelhandelsfläche in einer Shoppingmall untergebracht sein werden oder in einzelnen Häusern und ihren Ladenzonen. Ob es ein Einkaufen im Glaskasten wird oder in richtigen Straßen. Letzteres wäre Stadt. Ersteres nur peinlich. Wenn es Senat und Bezirk ernst meinen, müssen sowohl für die Wohnungen als auch für das Einkaufen Architekturwettbewerbe her.

Uwe Rada