Das viel zu frühe Ende der Kindheit

Kino Visar Morinas Film „Babai“ (Vater) – erzählt weniger brandaktuell von Flucht als zeitlos von einem Vater-Sohn-Konflikt

Nori (Val Maloku) folgt dem Vater (Astrit Kabashi) überallhin nach Foto: Missing Films

von Claudia Lenssen

Nori (Val Maloku), der 10-jährige Junge im Zentrum von Visar Morinas furiosem Film ­„Babai“ (Vater), fixiert die Welt der Erwachsenen wie ein verwundeter Kämpfer, der auf seine einzige Chance gegen die nächsten Schläge lauert.

Das Kind mit den weichen Zügen und dem undurchdringlichen dunklen Blick muss fürchten, dass der Vater (Astrit Kabashi) es in Prishtina zurücklässt, so wie die Mutter auf und davon ging, und es ist entschlossen, diesen größten Verlust zu verhindern, auch um den Preis, dem Vater auf eigene Faust nach Deutschland folgen zu müssen.

Mit dieser Geschichte über das viel zu frühe Ende einer Kindheit kehrte Morina in sein Geburtsland Kosovo zurück. In Prishtina geboren, floh er mit 15 mit seiner Familie nach Deutsch­land, als Serbien das überwiegend von Albanern bewohnte Koso­vo brutal an der durch kosovarische Guerillas reklamierten Unabhängigkeit hindern wollte und die Nato 1995 einen Krieg gegen Serbien begann.

In „Babai“ bilden Schikanen der serbischen Miliz den alltäglichen, von verbissenem Schweigen begleiteten Hintergrund des Vater-Sohn-Dramas. Angst und Anspannung spiegeln sich im zerfurchten Gesicht des Vaters Gezim, als er in der Eingangsszene im Taxi eines Schleppers, getarnt als „Businessman“, die Grenze nach Montenegro passieren will und dabei in eine serbische Straßenkontrolle gerät, die den heimlich zugestiegenen Nori im Kofferraum des Wagens findet. Ein anderes Mal beobachtet das Kind an der ethnischen Frontlinie Prishtinas einen Milizionär, der allein durch drohende Pfiffe einen Autofahrer immer wieder zum Anhalten nötigt.

Wut und Niedertracht

Der Film nimmt radikal die Perspektive des Kindes ein. Kaum eine Szene, in der Nori nicht präsent ist, kaum ein Kamerablick, der die verschlossenen Gesichter der Erwachsenen nicht aus seiner Augenhöhe wahrnähme. Nori lernt seine Lektion durch ihre Wut, Hilflosigkeit und Niedertracht.

Vater und Sohn arbeiten als Zigarettenverkäufer zusammen, sie sind Mitbewohner im Haus eines reichen Bauernonkels, wo sie sich eine provisorisch ausgerollte Matratze teilen. Mehr besitzen sie nicht.

Unter der patriarchalischen Fuchtel des alten Adam (Enver Petrovci) scheint das alte Sozialgefüge noch zu funktionieren. Man streitet, ob die Kuh, der Traktor oder das nicht regis­trierte Gewehr verkauft werden soll, um die vom Vater mit Gewalt verfügte Hochzeit des Sohnes zu finanzieren. Wenn die Eltern der Braut ihre Aufwartung machen, kommt es zu einem aufwendigen rhetorischen Ritual, bei dem das Befinden der kompletten Großfamilie in einem dialogischen Singsang abgefragt wird. Viel später im Film, wenn das Kind den Vater in Köln gefunden hat und beide in Not das von Nori geklaute Geld zurückverlangen, sein Unterpfand, das seine Fluchtbegleitung durch eine Nachbarin sicherte, wird dasselbe Ritual zur blanken Farce, zum Vorspiel zu einer Prügelei, bei der der Vater hilflos einsteckt.

Entsolidarisierung

Auf den ersten Blick ein brandaktueller Themenfilm zur Flüchtlingskrise, erzählt Visar Morinas mehrfach ausgezeichneter, für den Auslands-Oscar und den Deutschen Filmpreis nominierter Film im Kern von einem intimen Vater-Sohn-Dilemma. Das Kind, das nicht allein in der mit Härte und Schlägen regierten Onkel-Familie zurückbleiben will und nach einem Beinahesuizid vom Vater verlassen wird, kopiert die Muster der Entsolidarisierung der Erwachsenen, um sich Geld zu besorgen und in der fast anonymen Zwangs­gemeinschaft der Flüchtlinge auf der lebensbedrohlichen nächtlichen Bootsfahrt über die Adria via Italien sein Ziel zu erreichen.

„Babai steht quer zum schrillen Sound des aktuellen Streits über die Flüchtlinge. Ein Ankommen ist unter den gefängnisgleichen Lebensumständen des Vaters gar nicht möglich. Die Flucht, erzählt Visar Morina, wird für sein verzweifeltes Gespann zur permanenten Konfrontation mit Rechtlosigkeit und Demütigungen. Unter deutschen Verhältnissen ist Gezim noch viel weniger der Vater, den Nori braucht. In der Not bricht der widersprüchliche Vater-Sohn-Konflikt immer wieder auf. Die Macht des tradierten ­Vaterregimes ist an ihrem Ende, dahinter tut sich ein Vakuum auf.

„Babai“. Regie: Visar Morina. Mit Val Maloku, Astrit Kabashi u. a., Kosovo/D 2015, 104 Min.