Bitte nicht allein in Memphis, Tennessee

Konzert Der US-Folk­sänger Austin Lucas spielt am Montagabend im Bi Nuu Songs aus vergangenen Epochen. Überzeugend wirkt vor allem seine Stimme

Berlin liegt in den Südstaaten. Das gilt tatsächlich für etwa eine Handvoll Ortschaften in den US-Bundesstaaten Kentucky, Texas und Alabama, die sich den Namen der Metropole aus der „Alten Welt“ geliehen haben. Es traf am Montagabend aber auch auf die ortsnamengebende Stadt selbst zu, in der der US-Künstler Austin Lucas am Montag gastierte.

Lucas wohnt mittlerweile in Nashville/Tennessee und klingt auch so. Seine Mischung aus Folk, Bluegrass und Punk versetzt das Publikum zurück in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts, als Fernreisen noch vorwiegend mit dem Zug bewältigt wurden und Arbeit nicht gleichbedeutend damit war, acht Stunden vorm Computer zu sitzen. Seine Zuschauer müssen sich in der Bar des Bi Nuu wie in einem Saloon fühlen. Einzig die Diskokugel, groß wie eine Abrissbirne, wirkt etwas deplatziert.

Erleichterung: kein Bart!

Austin Lucas ist ein kleiner, etwas pummelig wirkender Mann mit glatt rasiertem Gesicht. Optisch hat er wenig gemein mit den kräftigen und stark bebärteten Kollegen, die die Folkszene in den vergangenen Jahren bestimmt haben. Er trägt auch nicht das obligatorische karierte Flanellhemd.

Stattdessen ist er komplett in Schwarz gekleidet. So, wie Johnny Cash das gefallen hätte. Eine Gemeinsamkeit mit Kollegen wie Frank Turner und Chuck Ragan gibt es aber doch. Wie diese stammt auch Lucas aus der Hardcore-Punk-Szene. Parallel zu seinem Solo-Programm spielt er bis heute in einer Crust-Punk-Band – einem Subgenre, von dem Lucas einmal gesagt hat, es sei Metal für Menschen, die keinen Metal spielen können. Seine bis zu den Handgelenken tätowierten Arme zeugen davon.

Seit 1997 ist Lucas solo unterwegs und hat sich den Wurzeln der traditionellen US-Folkmusik verschrieben. Dabei ist er familiär vorbelastet. Bereits sein Vater Bob spielt und produziert Country- und Bluegrass-Musik. Auf Austin Lucas’Soloalben kommt das komplette Folk-Instrumentarium zum Einsatz: Akustikgitarre, Pedal-Steel-Gitarre, auch mal eine Fidel und eine zusätzliche Frauenstimme. Live unterstützt ihn nur eine verstärkte Gitarre. Und das tut der Musik gut. Denn Austin Lucas hat eine herausragende Stimme.

Viele seiner Kollegen klingen, als hätten sie reichlich Whisky und Zigarettenrauch intus. Lucas hat eher Kreide gefressen. Seine Stimme ist hoch für einen Mann, und gleichzeitig hat sie große Reichweite. Er haucht, ruft und jault. Am stärksten wirkt er in jenen Momenten, in denen die Gitarre in den Hintergrund tritt oder vollständig verstummt. Dann füllt sein Gesang den kompletten Raum von der Bühnenkante bis hinter die lang gezogene Bar. Dafür braucht er nicht einmal das Mikrofon. Hier kommt ihm seine Ausbildung in einem Chor zugute.

Mit übellaunigem Gesichtsausdruck trägt Lucas Geschichten von Verlierern vor – singt über Menschen mit Heimweh, zerbrochene Freundschaften, Enttäuschungen in der Musikindustrie und natürlich Liebe in schwierigen Zeiten. Offenbar müssen Menschen gewisse Lebensjahre vollendet haben, um solche Erlebnisse nachempfinden zu können. Das Publikum im Bi Nuu ist jedenfalls in einem Alter, in dem gescheiterte Beziehungen und gekündigte Jobs bereits hinter einem liegen. Es lauscht Austin Lucas’Musik beinahe in völliger Stille, was auf Berliner Konzerten selten der Fall ist. Der Sänger belohnt es mit Liedwünschen.

Seine letzten beiden Songs spielt er mitten im Zuschauerraum. Als er im finalen „I don’t wanna be alone in Memphis“ klagt, fühlt man sich endgültig in die Südstaaten der Fünfzigerjahre zurückversetzt. Nur das Blitzlicht der Smartphones beweist das Gegenteil.

Ronny Müller