Das Moralische suspendiert

Theater Die Texte des 1995 verstorbenen Dramatikers Heiner Müller gelten als ernst, düster und schwer verständlich. Im Kampf zwischen Körper und Ideen entfaltet sich aber ihre Komik, eine Komik des Schreckens

Meist ist es der Körper, der sich querstellt, der Körper mit seinen Wunden

von Stefan Mahlke

Heiner Müllers Texte sind nicht zu verstehen. Nicht in dem Sinne, dass man eine Botschaft unterm Arm trägt, wenn man sie gelesen hat oder aus dem Theater kommt. Dennoch hält sich der Mythos hartnäckig, sie seien schwer verständlich. „Die Legende der Schwerverständlichkeit“, sagte Müller selbst, „haben die Regisseure zu verantworten, die die Texte dem Publikum immer so präsentiert haben, als ob sie verstanden werden müssten. Daher erscheinen sie dem Publikum als schwierig. Wenn man aber bla-bla spielt, ist es gar nicht mehr schwierig. Mein Text ist ein Telefonbuch, und so muss er vorgetragen werden.“

Die Aufgabe des Darstellers sei es, den Text zu servieren. Der Schauspieler als Kellner. Wer Hermann Beyer auf der Bühne gesehen hat, hat eine Ahnung davon bekommen, wie grandios das funktionieren kann. Beyer, vielleicht der beste Müller- und Brecht-Schauspieler der letzten 30 Jahre, gehörte zum Stammpersonal vieler Müller-Inszenierungen. Nicht Interpretation, sondern Vernichtung von Interpretation, das war die Hauptarbeit, sagte der Bühnenbildner Hans-Joachim Schlieker über die Proben zum „Auftrag“ an der Volksbühne 1980.

Vielen gilt Müller als Autor der Apokalypse, als Verfasser ernster, düsterer Weltentwürfe. Müller fühlte sich auch da missverstanden: „Nun, ich finde ja fast alle meine Stücke relativ komisch. Ich wundere mich immer wieder, dass diese Komik so wenig bemerkt und benutzt wird.“

Müllers Stücke sind komisch, schrecklich komisch. Oft lachen wir mit den Figuren, machen uns mit ihnen gemein und suspendieren so das Moralische. Der Schrecken ist nicht nur einer angesichts dessen, was auf der Bühne geschieht, sondern auch ein Erschrecken über das eigene Lachen. Wie in einer Szene in „Germania. Tod in Berlin“. „Soldat 2: Woher, Kamerad? Junger Soldat: Aus der Schlacht. Soldat 3: Wohin, Kamerad? Junger Soldat: Wo keine Schlacht ist. Soldat 1: Deine Hand, Kamerad. Reißt ihm den Arm aus. Der junge Soldat schreit. Die Toten lachen und fangen an, den Arm abzunagen.“

Das Amoralische bei Müller resultiert nicht aus dem Amoralisch-sein-Wollen, sondern hat seinen Grund in der Schadenfreude. Sie war für Müller ein wesentlicher Grund zum Schreiben von Stücken, „die Freude daran, dass etwas schiefgeht und dass man in der Lage ist, das zu beschreiben. Ich glaube, das ist das Grundmodell von Theater und auch von Komik.“ Was Müller an Chaplin anzog, „war der Terror seiner kalten Schadenfreude auf der Rollschuhbahn oder am Fließband“.

Es ist Müllers viel gerühmte Sprachmächtigkeit, die die schreckliche Komik erst hervorbringt: indem sie aus der Alltagsrede in den dramatischen Situationen deren konkrete, sinnliche Bedeutung wieder hochholt. Im Produktionsstück „Traktor“ ist es ein Traktorist, der sich erst weigert, ein vermintes Feld zu pflügen. „Traktorist: Warum soll grad ich mir ein Bein ausreißen / Ich hab die Mine nicht gelegt.“ Dann pflügt er’s doch und verliert ein Bein, als eine Mine hochgeht. Im Krankenhaus wird er besucht. „Besucher: Wie geht’s? Traktorist: Ist dir mein Bein über den Weg gelaufen.“ Alle Versuche, ihn zum Helden für eine gute Sache zu machen, scheitern, denn der Traktorist verweigert sich, sein Beinstumpf bleibt ihm Mittelpunkt der Welt.

Der Beinstumpf ist ein Rest, das Asoziale, das in keinem Sozialen und in keiner Utopie aufgeht. Nicht auflösbar, nicht einzubauen in Ideologien, übrig geblieben beim Kampf zwischen Ideen und Körpern. In diesem Sinne kann Müllers Theater als ein „Theater des Rests“ bezeichnet werden, wie Nikolaus Müller-Schöll vorgeschlagen hat. Meist ist es der Körper, der sich querstellt, der Körper mit seinen Wunden, seinem Begehren, seinem Schmerz, seiner Lust. Der „Rest“ hat seinen Platz im Furchtzentrum, einem Begriff, den Müller sich von Brechts „Fatzer“ ausleiht, jenem Fragment aus den späten zwanziger Jahren, das für Müller zu einem Objekt von Neid wurde.

Im „Auftrag“ baut sich Müller solch ein Furchtzentrum. Debuisson, Sohn von Sklavenhaltern auf Jamaika, ausgezogen, um auf Haiti die Sklaven zu befreien, ohne Auftraggeber, als Napoleon die Macht in Frankreich übernimmt, erliegt seiner ersten Liebe: „Der Verrat zeigte lächelnd seine Brüste, spreizte schweigend die Schenkel, seine Schönheit traf Debuisson wie ein Beil.“

Müller ist seit 20 Jahren tot. Die Aktualität seiner Texte wird oft beschworen, aber selten eingelöst. Ihre Zukunft im Theater liegt vielleicht darin, die Löcher, die Ritzen, die Abgründe zu inszenieren: die Brüche in den Texten, wo das Inkommensurable sichtbar wird, der nicht aufhebbare Rest, der die Komik des Schreckens in Gang setzt.

Heiner Müller! – Das Festival im HAU Hebbel am Ufer

„Was jetzt passiert, ist die totale Besetzung mit Gegenwart“ (Heiner Müller, 1990) Foto: „Die Müllermatrix“ – Joseph Gallus Rittenberg

Das HAU Hebbel am Ufer präsentiert gemeinsam mit der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft das Festival „Heiner Müller!“. Unter anderen bezieht sich das Performance-Kollektiv andcompany&Co in einem Lecture Concert auf die vergessenen sozialistischen Ursprünge von Big Data und „Singularity“. Der Regisseur Boris Nikitin nimmt Heiner Müllers Spur der „Lücke im System“ auf und erinnert daran, dass das Theater Ort für die Tragödie(n) des Menschen ist, Till Müller-Klug und Nina Tecklenburg (Interrobang) machen in ihrer hypertextuellen Telefoninstallation „Müllermatrix“ dem Publikum Originalaufnahmen mit Heiner Müller zugänglich. Ergänzt und kommentiert werden die neuen künstlerischen Auftragsarbeiten durch ein Rahmenprogramm mit Filmen, Performances, Installationen und Gesprächen.

Festival „Heiner Müller!“: HAU1–3, 3.–12. März, www.hebbel-am-ufer.de