Die Emanzipation der jungen Frau

Kino Spiel mit Rollenerwartungen: das Programm "Ich. Weibliche Selbstreflexion im ost- und westdeutschen Film" im Arsenal

Noch immer scheint die Geschichte weiblicher Filmproduktion allzu oft nur aus dem kurzen Aufbruch Ende der 1960er Jahre zu bestehen. Die Mühen, die Frauen in späteren Jahrzehnten auf sich nehmen mussten, um Filme zu drehen, geraten dar­über oft in Vergessenheit. Dem hilft nun ein Filmpaket mit dem Titel „Ich. Weibliche Selbstreflexion im ost- und westdeutschen Film“ ab, das die Deutsche Kinemathek zusammengestellt hat. Zum Auftakt ist ein Kurzfilmprogramm im Berliner Arsenal zu sehen, einleitend kommentiert von der Berliner Filmjournalistin Claudia Lenssen.

Entspannt liegt eine junge Frau auf dem Bett und liest. Die Kamera nähert sich ihr allmählich und schwenkt dabei über einen Tisch, auf dem neben einer Obstschale und einem Aschenbecher der „Kinsey-Report“ liegt. Neben der jungen Frau auf dem Bett: der Kulturfahrplan, ein Bildband zum Manierismus und ein Mickymaus-Heft.

Die Bilder sind unterlegt mit der männlichen und allwissenden Stimme eines Kunstkurses von der Schallplatte. Genüsslich, spielerisch und detailverliebt zerpflückt May Spils in ihrem Kurzfilm „Das Porträt“ paternalistisch-verstaubte Kulturvorstellungen. Zwei Jahre später, 1968, drehte May Spils mit „Zur Sache, Schätzchen“ einen der zu Recht bekanntesten westdeutschen Filme der 1960er Jahre.

Im selben Jahr entstand der frühe Kurzfilm „Umwege“ der späteren Studentin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Susanne ­Beyeler (heute am ehesten für ihren Anti-Atom-Dokumentarfilm „Strahlende Zukunft“ bekannt). „Umwege“ zeichnet den Ausbruch einer Frau aus ihrem Elternhaus nach und folgt ihr in die Erkundung der Wirklichkeit.

Aus der Beengtheit des Elternhauses kommt die junge Frau mitten unter schwafelnde Politmacker und den Kampf gegen die Notstandsgesetze. Beyelers Kurzfilm ist durchdrungen von den Brüchen, die mit der Chiffre „1968“ bezeichnet werden, und markiert zugleich eine Differenz, indem die Emanzipation der jungen Frau im Zentrum des Films bleibt.

Rentnerin am Wettschalter

Rollenerwartungen stehen auch im Mittelpunkt eines Kurzfilms von Helke Misselwitz aus dem Jahr 1983: „Aktfotografie – z. B. Gundula Schulze“ porträtiert die Fotografin Gundula Schulze und verwebt die Reflexion der Fotografin über die Darstellung von Frauen auf Fotos mit Aufnahmen von Kassiererinnen in einem Supermarkt. Petra Tschörtners Film „Schnelles Glück“ nähert sich 1988 dem Treiben auf der Pferderennbahn in Berlin-Karlshorst aus der Perspektive einer Rentnerin, die einen der Wettschalter betreut.

Beobachtende, reflexive und spielerische Momente halten sich die Balance in dem Kurzfilmprogramm und prägen auch die Langfilme des Verleihpakets. Neben Helga Reidemeisters eindrucksvollem Porträt einer Bewohnerin des Westberliner Märkischen Viertels in „Von wegen ‚Schicksal‘“ sind vor allem die Filme von Defa-Regisseurinnen eine Entdeckung.

Zwischen Ingrid Reschkes 1970 entstandenem Film „Kennen Sie Urban?“, der nach einem Drehbuch von Ulrich Plenzdorf die Emanzipation einer jungen Frau aus männlicher Perspektive schildert, und Iris Gusners kluger Ausdifferenzierung von weiblichen Handlungsoptionen in „Alle meine Mädchen“ von 1980 eröffnet sich eine selten gezeigte Bandbreite weiblicher Lebenswelten in der DDR.

Helke Misselwitz’Langfilmdebüt „Winter ade“ von 1988 schließlich verbindet eine Reihe von dokumentarischen Frauenporträts zu einem Panorama von Frauenleben in der DDR kurz vor dem Fall der Mauer. Eine Auswahl des Verleihpakets wird im Mai im Berliner Bundesplatz-Kino zu sehen sein.

Fabian Tietke

„Ich. Weibliche Selbstreflexion im ost- und westdeutschen Film“, 29. Februar, 19 Uhr, Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2; weitere Termine im Mai, jeweils sonntags, 15.30 Uhr, Bundesplatz-Kino, Bundesplatz 14