Kulturhauptstadt San Sebastián: Eine Insel, zwei Berge und der Ozean

Das baskische San Sebastian ist zusammen mit Breslau Europäische Kulturhauptstadt 2016. Die nordspanische Stadt lebt im Rhythmus des Meeres.

Das Meer brandet an die neue Promenade von San Sebastian

Die neue Promenade von San Sebastian. Foto: dpa

Die blaugrünen Wellen donnern gegen die Felsen. Aus dem Boden schießen heulend Gischtfontänen. „El Peine del Viento“, der Kamm des Windes, hat der Bildhauer Ernesto Chillida seine Installation an der Westspitze der La-Concha-Bucht von San Sebastián genannt. Verschlungene Stahlfiguren klammern sich an die Felsen. Das Meer ist Teil des Werks.

Ana Gabriela bringt Besucher auf ihren Radtouren an diesen magischen Platz. Sie ist in Brasilien aufgewachsen, hat in Italien und in Kalifornien gelebt. Geblieben ist sie in San Sebastián. Die junge Frau schwärmt von der Lebensqualität ihrer Wahlheimat: entspannte Menschen in einer kleinen Großstadt mit 186.000 Einwohnern, reichlich Kunst und Kultur. Wir radeln vom Windkamm am goldgelben Sandstrand entlang zurück in Richtung Univiertel.

In den 80er Jahren bekam das Baskenland nach Jahrzehnten der Unterdrückung eine eigene Universität. San Sebastián heißt nun auch offiziell wieder Donostia. Die Leute sprechen wieder ihre Sprache: das mit keinem europäischen Idiom verwandte uralte Euskara, Baskisch.

Gabrielas Tour führt weiter nach Amara, der zweiten und dritten Stadterweiterung, die sich das reich und mondän gewordene Seebad am Atlantik vor 100 Jahren gönnte. Von alten Bäumen gesäumte Alleen mit schattigen Promenaden begleiten Jugendstilfassaden des spanischen Modernismo. Über Hauseingängen wachen steinerne Fabelwesen, als wollten sie beweisen, dass aus dem Fischernest das Feriendomizil der Herrschenden geworden ist. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Spaniens Königsfamilie auf einem Hügel über dem Strand ihre Sommerresidenz Miramar errichten lassen. Ihr folgten der Adel und der Geldadel. Um die Jahrhundertwende baute man Kasinos, Cafés, Restaurants und die von geschwungenen, weiß lackierten Geländern gesäumte Seepromenade.

Dann hatte ein Gast die Idee, ein Fischlein, eine kleine Paprika­schote und eine Olive auf einem Zahnstocher aufzuspießen

Blas Anchóns schummrige Kneipe an der Straße der Katholischen Könige hat sich seit ihrer Gründung 1942 kaum verändert. Über Tischen und Stühlen aus dunklem Holz hängen an der Decke Dutzende spanische Schinken. Blas, ein kräftiger, wohlgenährter Bärtiger im Pensionsalter, erzählt die Legende, die hier ihren Anfang nahm: Kurz nach dem Bürgerkrieg (1936–39) war das Essen knapp. Die Hungrigen kamen auf ein Glas Wein in die Kneipe. Dazu bekamen sie Kleinigkeiten, die sogenannten Banderillas: Oliven, milde Peperoni und Sardellen. Dann hatte ein Gast die Idee, je ein Fischlein, eine kleine Paprikaschote und eine Olive mit einem Zahnstocher aufzuspießen. Gemeinsam gegessen, entwickeln die Häppchen einen eigenen, salzig-pikanten Geschmack.

San Sebastián: Touristeninformation, Boulevard 8, Tel. +34 943 481116, www.sansebastianturismo.com

Kulturhauptstadt 2016: Infos zur Europäischen Kulturhauptstadt Donostia, so der baskische Name von San Sebastián, http://dss2016.eu

Tabakalera: In der ehemaligen Tabakfabrik am Hauptbahnhof entstand auf 37.000 Quadratmetern eines der größten Kulturzentren Europas mit Mediathek, Museen, Räumen für Kunstworkshops, Künstler- und Gastateliers, Ausstellungsräumen, eigenem Hotel und mehr: C/Duque de Mandas 32, www.tabakalera.eu

Stadtführungen: Begegnungen mit ehrenamtlichen Greetern, die in der Stadt leben: http://donostia-sansebastiangreeters.com

Führung: Wein-, Gastronomie- und Fahrradtouren mit der begeisterten Wahleinheimischen Ana Gabriela Serra auf Englisch, Spanisch oder Portugiesisch: www.zaporeaz.com

Pintxos: Die Basken sind Genießer und San Sebastián ist Hauptstadt der Leckereien. Die Region rühmt sich der höchsten Dichte an Sternelokalen weltweit. Eine der Lieblingsbeschäftigungen von Besuchern und Einheimischen: Ir de Pintxos. Man zieht gemeinsam durch die Bars, trinkt hier und da ein Weinchen und isst dazu die leckeren kleinen Gerichte, die die Barbesitzer auf ihren Theken angerichtet haben. Pintxos werden diese baskischen Tapas genannt.

Drei Pintxo-Routen führen durch die Alt- und Neustadt. (Infos gibt es im Touristenbüro). An fast jedem Tag bieten Wirte in einem Viertel je ein Pintxo mit einem Getränk besonders günstig an, eine Art Happy Hour. Donnerstag ist der Stadtteil Gros zwischen Kursaal und Bahnhof jenseits des Flusses dran.

Die Schlemmerstadt San Sebastián leistet sich auch eine „Kulinarische Universität“ www.bculinary.com www.followmesansebastian.com

Die Wiedergeburt eines Schiffes: In einem Hangar in Pasajes bauen Freiwillige ein 1565 vor Kanada gesunkenes baskisches Schiff originalgetreu aus Holz und selbstgeschmiedeten Nägeln nach. Baskische Walfänger waren mit der „San Juan“ mehrmals 6.000 Kilometer weit bis nach Neufundland gesegelt. 2019 soll der Nachbau dieselbe Strecke abfahren. Ein kleines Museum erzählt die ganze Geschichte. Ondartxo Ibilbidea 1, Pasai San Pedro, http://albaola.com/en

Aus Hollywood kam in jenem Jahr der Film „Gilda“ mit der jungen Rita Hayworth nach Europa. Diktator Franco setzte das für damalige Verhältnisse freizügige Werk auf den Index. Die Basken schauten sich das frivole Stück im nahen Frankreich an. Die Hauptdarstellerin gab der Küchenkreation ihren Namen: „Scharf, grün und ein bisschen pikant“, erklärt Wirt Blas und grinst ein wenig verlegen.

Bretter an den Hauswänden

Die Gilda gilt heute als die Mutter aller Pintxos: meist aufgespießter kleiner Leckereien, die die Wirte auf ihren Tresen angerichtet haben: Kabeljautortillas, Gemüsespießchen mit Fisch, Brötchen mit Sardinen und fein gehacktem Gemüse, Schafskäse mit Tomatenmarmelade oder in Rosenwasser gedünstetem Bacalhau. Dazu trinkt man gern Txakolí (sprich Tschakoli), perlenden, jungen Weißwein, der auf den Bergen rund um San Sebastián gedeiht. Die größte Auswahl findet sich in der Altstadt: Weil die Gassen hier für Tische und Stühle zu eng sind, haben die Kneipiers Bretter an die Hauswände montiert. Daran sitzen die Gäste auf Barhockern. Lange halten es die meisten sowieso nicht in einer Bar aus. Man isst ein, zwei oder drei Pintxos und zieht in die nächste Bar, wo das Essen mindestens genauso lecker schmeckt.

Weil die frische, leichte baskische Küche aus einheimischen Meeresfrüchten, Fisch und Gemüse Touristen begeistert, eröffnen in der Stadt immer mehr Kochschulen. Im Untergeschoss des 1912 erbauten Luxushotels Maria Cristina bietet Jon Warren Basque Cooking Classes an.

Der 35-jährige Engländer hat seinen gut bezahlten Job in der Londoner City gekündigt, um sich einen Lebenstraum zu erfüllen: „Ich hatte genug vom Hamsterkäfig im Bankenviertel“, erzählt der ehemalige Finanzmakler und Vermögensberater. Jon stand nach der Kündigung vor dem Nichts. Er erinnerte sich an ein feuchtfröhliches Wochenende, das er kurz zuvor mit Freunden in San Sebastián verbracht hatte, packte ein paar Sachen, fuhr ins Baskenland und buchte einen Spanischkurs. In einem Hotel fand er einen Job als Page. „So habe ich erfahren, was den Gästen fehlt.“

Angefangen als Page

Er eröffnete einen Delikatessenladen mit baskischen Spezialitäten und dann die Kochschule „San Sebastian Food“.

Seine Mitarbeiterin Ane leitet die Kochworkshops und hilft den Teilnehmern bei der Arbeit. Sie hat in Frankreich Kulturvermittlung und Tourismus studiert. Die Menschen hier lobt sie als ehrlich und stolz auf Ihre Traditionen. Die meisten, sagt sie, seien bescheidene Leute. In Jahrhunderten der Unterdrückung sei im Baskenland ein starker Zusammenhalt gewachsen, für den es im baskischen ein eigenes Wort gibt: Auzolan.

„Die Basken“, sagt auch die Direktorin des Kulturinstituts Etxepare, „waren immer dem Meer zugewandte, weltoffene Seefahrer.“ Aizpea Goenaga Mendiola ist „im Widerstand gegen Franco“ aufgewachsen. Nachdem der Diktator 1975 gestorben war, kämpfte die ETA weiter für die Unabhängigkeit des Baskenlandes. Fast täglich explodierte in der Region eine Bombe, zunächst vor allem in Polizeistationen, später wahllos auf öffentlichen Plätzen. Der spanische Staat schlug zurück: Terroristen und solche, die die Guardia civil dafür hielt, verschwanden in Gefängnissen. Viele wurden gefoltert. Die Fronten trennen bis heute Dörfer und Familien. „Ich hätte auch bei der ETA landen können“, erzählt Aizpea nach kurzem Zögern, „aber zum Glück entdeckte ich rechtzeitig Kunst und Kreativität. Das öffnet deine Seele.“

Ein Zeichen gegen Hass und Gewalt

Der baskische Friedensprozess könnte von Krieg und Terror traumatisierten Ländern als Vorbild dienen. 2011 hat die ETA die Waffen niedergelegt. An Hauswänden fordern handgemalte Transparente und Graffiti die Rückkehr der Gefangenen. Derzeit sitzen die ETA-Häftlinge vor allem in spanischen Gefängnissen anderer Regionen ihre Haftstrafen ab. Der Versöhnungsprozess hat im Baskenland gerade erst begonnen.

Mit Ideen zur Überwindung von Hass und Gewalt hat San Sebastián die Jury für die Auswahl der Europäischen Kulturhauptstadt 2016 überzeugt. Inesa entwickelt mit einem Kollegen die Projekte zur Versöhnung einst verfeindeter Familien und Nachbarschaften. Geplant sind Podiumsdiskussionen, runde Tische und Workshops nach dem Konzept des „Theaters der Unterdrückten“: Professionelle Schauspieler zeigen Szenen typischer Alltagskonflikte. Danach bekommen die Zuschauer Karten, auf die sie ihre Lösungsvorschläge schreiben. Zusammen spielen die Beteiligten dann diese Ideen durch.

„Das Publikum“, sagt Inesa, „wird Teil der Aufführung.“ Die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit lösen sich auf. Die Kulturhauptstadt-Projekte zu Frieden und Versöhnung hätten vor allem das Ziel, über die gegensätzlichen Erfahrungen hinweg die Gemeinsamkeiten der Menschen herauszuarbeiten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.