Luftig leichte Melancholie

Musik Enrico Macias überzeugt mit seinem neuen, experimentierfreudigen Album „Les clefs“

Aus dem Exil könne es keine Rückkehr geben, so schrieb einst Jean Améry, denn auch nach einem möglichen Wiedereintritt in den Raum erhalte der Exilant niemals die verlorene Zeit zurück. Als der algerisch-jüdische Musiker Gaston Ghrenassia 1961 im Alter von 23 Jahren seine Heimatstadt Constantine in Richtung Frankreich verließ, dachte er sicherlich nicht, dass er zum ewigen Exil verdammt sein würde. Die Flucht folgte dem Mord an seinem Schwiegervater Cheikh Raymond, dem bekannten jüdischen Interpreten der Berber-Musik Ma’luf, durch die Unabhängigkeitsbewegung FLN.

In der Folge gelang es Ghre­nassia aber unter dem Künstlernamen Enrico Macias, seinem Verlust und dem Gefühl der Fremdheit im französischen Exil durch Chansons wie „Adieu mon pays“, „J’ai quitté mon pays“ oder „L’oriental“ Ausdruck zu verleihen. Er wurde zur Stimme der sogenannten pieds-noirs, der Algerienfranzosen, und später auch der Einwanderer aus dem Maghreb. Seine Mischung aus orientalischem, sephardischem Gitarrenspiel mit französischen Chanson war ein großartiger musikalischer Versuch einer west-östlichen Kulturverständigung. Nach seinen frühen Erfolgen verharrte er jedoch mit seichtem Ethnopop im künstlerischen Mittelmaß. Erst in den nuller Jahren gelang ihm mit „Oranges Amères“ und „La vie populaire“ ein großartiges Comeback.

Jetzt legt er mit „Les clefs“ (deutsch: Die Schlüssel) nach fast zehn Jahren ein Album mit zwölf neuen Kompositionen vor. Wie der Titel nahelegt, bildet die verlorene Heimat ein zen­trales Motiv. Im gleichnamigen Stück werden die zurückgelas­senen Schlüssel zu einem Zeichen für den endgültigen Abschied. Diese melancholische Erinnerung kommt musikalisch in ­einem luftigen Pop-Gewand daher, das aus der Feder des französischen Erfolgskomponisten Emmanuel Da Silva stammt. Die Assoziationen zur brennend-heißen Mittelmeersonne wirken beim Hören nie kitschig.

Neben Da Silva tragen weitere große Namen aus der französischen Pop- und Chansonszene auf dem Album wie Marc Estève, Bruno Maman, Claude Morgan, Art Mengo oder der kapverdische Komponist Téo­filo Chantre zum frischen Sound bei. Macias belässt es dabei nicht beim wehmütigen Blick zurück. Bereits das zweite Lied „Ami“ ist eine zärtlich-tänzelnde Freundschaftserklärung an seine Wahlheimat Paris. Der 77-Jährige präsentiert sich darin als zeitgemäßer, fast jugendlicher Chansonnier.

Was die Musik auszeichnet, ist ihre Experimentierfreudigkeit: Spielend wird vom klassischen Chanson zum poppigeren Nouvelle Chanson gewechselt, karibische Rhythmen finden sich neben orientalischen Melodien wieder. Über allem aber thront Macias’ sanfte Stimme, die an Tiefe gewonnen hat und den Stücken stets eine melancholischen Charakter verleiht.

Das zeigt sich nicht zuletzt bei „Chanter pour toi“ und „Pour ma belle“, den beiden Liedern, die seiner verstorbenen Frau gewidmet sind. Natürlich darf bei Macias das orientalische Element nicht fehlen. Mit dem Stück „À la grâce de Dieu“ kehrt er auch auf diesem Album zu seinen Wurzeln der traditionellen Musik der Berber zurück. Gleichwohl gelingt es ihm, die klassischen Einflüsse des Ma’luf mit modernen Elementen aus dem französischen Chanson zu verbinden. Das Ergebnis ist ein starkes musikalisches Plädoyer für den kulturellen Brückenbau. .

Bis heute verweigert Algerien Macias die Einreise und damit die Erfüllung eines Wunsches. Mit „Les clefs“ zeigt er aber eindrucksvoll, dass Musik es einem exilierten Künstler durchaus erlauben kann, den verlorenen Ort und die verlorene Zeit zu überwinden, wenn auch nur für eine Albumlänge. Kevin Zdiara

Enrico Macias: „Les clefs“ (Capitol France/Universal)