Von Hand gedrückt und kleingehalten

DER STREIT ÜBER DIE SCHRIPPE

Bei der Ostschrippe sind die Aromastoffe auf weniger Raum verteilt, der Geschmack ist intensiver

Wolfgang Thierse ist ein guter Beobachter. Schätzungsweise ein Jahrzehnt nach den ersten Die-Schwaben-machen-den-Prenzlauer-Berg-kaputt-Rufen mosert die Kollwitzplatz-Legende über Zuwanderer aus dem Süden. Er ärgere sich, wenn er beim Bäcker erfahre, „dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken“, klagte der SPD-Bundestagsvize in der Berliner Morgenpost. Und: „Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche.“

In der folgenden Debatte bezog Thierse ordentlich Dresche. Eine zentrale Frage indes blieb offen: Was macht eine Schrippe eigentlich aus, zumal die legendäre „Ostschrippe“? Worin unterscheidet sie sich vom Wecken, der Semmel und ihrem Westberliner Pendant?

Viel kompakter sei die Ostschrippe, feinporiger, erklärt Marian Kalliske, Brötchenexperte der Berliner Bäckerinnung. Die Aromastoffe seien auf weniger Raum verteilt, der Geschmack werde intensiver. Besonders wichtig, so Kalliske: die Schrippe ist „handgedrückt“.

Die Ursachen liegen in der technischen Ausstattung der DDR-Backstuben. Es gab dort keine Gärräume mit hoher Luftfeuchtigkeit und Temperatur, die für ein fulminantes Aufgehen des Teiglings sorgen, sondern lediglich sogenannte Gärdielen: einfache Holz- und Metallkonstruktionen, auf denen sich die künftigen Schrippen unter normalen Backstubenbedingungen entwickelten. Gebacken wurde dann „direkt auf der Herdplatte“, so Marian Kalliske, also auf einem Backblech, das mehr Unterhitze erzeugt als die Umluftöfen westlicher Bäckereien.

Wer eine solche Technik verwendet, kann auch heute noch authentische Ostschrippen produzieren. Laut Kalliske backen allein in Prenzlauer Berg noch acht Innungsbetriebe wie zu alten Zeiten. Thierse kann also tief Luft holen und weiter auf kompakten Schrippen rumkauen. Und wenn er sich künftig migrationspolitisch offener gebärden möchte, sollte er mal in der „Schwäbischen Bäckerei“ gleich um die Ecke vorbeischauen. „Wir bekommen täglich 120 Ostschrippen geliefert“, erzählt die Verkäuferin der Filiale in der Prenzlauer Allee. „Schwabenecken“ und Elsässer Semmeln gingen nicht so gut. Und Wecken? Gibt es gar nicht.JÖRN WEGNER