Bei einem Amoklauf tötet ein Jugendlicher vier Menschen

Kanada Die indigene Gemeinde La Loche in Saskatchewan gilt als Bezirk voller Probleme

„Jeder hier in La Loche ist zutiefst betroffen“

Bürgermeister Kevin Janvier

Von Jörg Michel

EDMONTON taz | „Ich habe gerade zwei Menschen getötet“, sagt der junge Mann im Chat mit seinem Freund, und dann: „Jetzt schieße ich gleich in der Schule.“ Der Freund reagiert panisch. „Warum? Warum bloß?“ Doch da ist es schon zu spät. Der Täter ist bereits auf dem Weg zur La Loche Dene High School.

Dann fallen Schüsse. Schüler und Lehrer stürzen sich zu Boden. „Ich hatte große Angst“, erzählt Alex Janvier später der Zeitung Star Phoenix. Dann hört er im Gang die flehenden Worte seiner Mitschüler: „Hör auf, bitte, hör auf!“ Doch der Täter hört nicht auf – bis er später von der Polizei gefasst werden kann. Die blutige Bilanz des Amoklaufs: mindestens vier Tote, zwei Schwerverletzte und mehrere Verletzte.

Für die zumeist indigenen Bürger der 3.000-Einwohner-Gemeinde La Loche im Norden Kanadas ist es ein Schock. Jeder kennt hier jeden – und einer von ihnen hat am Freitagnachmittag im Dorf eines der schlimmsten Massaker der jüngeren kanadischen Geschichte angerichtet. Erst erschießt der junge Mann in einem Wohnhaus seine zwei Brüder. Ein wenig später tötet er in der Schule eine Referendarin und einen Lehrer.

„Die ganze Gemeinde von La ­Loche ist erschüttert“, sagte der Bürgermeister Kevin Janvier am Samstag in einer Pressekonferenz. „Jeder hier in La Loche ist zutiefst verletzt und betroffen. Es wird Jahre dauern, bis unsere emotionalen Wunden heilen werden.“ Besonders gilt das auch für den Bürgermeister persönlich, denn die getötete Referendarin war seine eigene ­Tochter.

Über die Motive des Schützen rätselt ganz Kanada. Bislang ist nur bekannt, dass der Mann siebzehn Jahre jung ist, einmal selbst die La Loche Dene High School besucht hat und bei Freunden als ruhig und verschlossen galt. Seine Identität darf laut kanadischem Recht wegen seines jugendlichen Alters nicht veröffentlicht werden.

Angeklagt ist der mutmaßliche Täter jetzt des vierfachen Mordes, des siebenfachen versuchten Mordes und des illegalen Besitzes einer Schusswaffe. Nächste Woche soll er erstmals vor einen Richter treten, wo er nach dem Jugendstrafrecht behandelt wird.

In Kanada kommen solche Amokläufe vergleichsweise selten vor. Der letzte ähnliche Fall geht zurück auf das Jahr 1992, als in einer Universität in Montreal vier Menschen starben. In Kanada wird Waffenbesitz deutlich restriktiver geregelt als in den USA.

Allerdings sind in vielen Indianergemeinden die sozialen Probleme groß, besonders im Norden des Landes. Drogen- und Alkoholmissbrauch sowie häusliche Gewalt gehören zum Alltag. Die abgelegene Ortschaft ist bekannt für ihre hohe Kriminalitätsrate.

Gerade für Jugendliche gibt es in dem Ort in der Taiga nicht viel zu tun. Es gibt keine Kinos, keine Restaurants, nicht mal ein Café. Der regionale Häuptling Bobby Cameron sprach von einem schlimmen Ort ohne Zukunftsperspektiven für junge Menschen. Viele Bewohner leiden unter Depressionen und anderen seelischen Krankheiten.

Experten führen die Misere auf die Arbeitslosigkeit und den Verlust kultureller Identität unter vielen indigenen Kanadiern zurück. Immer weniger Kinder und Jugendliche sprechen noch die indigene Sprachen ihrer Vorfahren oder kennen deren Sitten und Bräuche. Premierminister Justin Trudeau sprach von ­einem schlimmen Tag für Kanada. Bei seinem Amtsantritt vor wenigen Wochen hatte er erklärt, das Selbstwertgefühl und die kulturelle Autonomie der Ureinwohner stärken zu wollen.