Berliner Szenen
: Kurz vor Zwölf

Flucht vor der Pest

Ally guckte entsetzt, sagte aber nichts. Anderes Thema

Wir standen in Tines schmaler Küche, kurz vor zwölf, gut versorgt mit Zigaretten, Bier und Knabberkram, und Tine versuchte zu erklären, wieso sie nach einem Jahr ohne nun wieder rauchte.

Es hat mir soo gefehlt, sagte sie. Es sei auch bloß eine Wette gewesen. Die 100 Euro Einsatz hatte sie Kalle galant erlassen. Ally guckte entsetzt, sagte aber nichts. Anderes Thema. Entlang der Balkanroute zwischen Griechenland, Mazedonien und dem Kosovo hatte Tine das Leid der aus Syrien und Afghanistan kommenden Flüchtlinge mit eigenen Augen gesehen. Alle wollten sie nach Deutschland. Unschlüssig, ob sie ihnen von brennenden Unterkünften erzählen sollte, hatte Tine schließlich lieber geschwiegen und mit angepackt.

Auf Merkel und Die Zeit schob sie einen Hass, der wie immer bei ihr in ein Lachen mündete. Ally erzählte von ihrem Gemüsehändler. Er sei überzeugt, dass ihm die Flüchtlinge die Äpfel klauten. Und auf der Rückreise von Luzern, wo Ally den Blick auf den See genossen hatte, hatte ein alter Mann im Zug gesagt, hoffentlich kommen nicht noch mehr Ausländer in den Wagen.

Während der Fahrt hatte sie ein Buch über Katharina von Bora gelesen. Nachdem Ave von Schönfeld statt Luther den Basilius Axt geheiratet hatte, nahm der Reformator sich ihrer an. Im Kloster Nimbschen hatte von Bora seine Klosterkritik gelesen, war mit einigen Schwestern in Heringsfässern versteckt geflohen und von Luther in Wittenberg untergebracht worden. 1525 heirateten sie. Nach Luthers Tod geriet sie in wirtschaftliche Not. Während des Schmalkaldischen Krieges siedelte sie mit den Kindern nach Magdeburg um. Sie starb an den Folgen eines Kutschenunfalls vor Torgau, auf der Flucht vor der Pest.

Das Licht ging aus. Sonja zündete die Kerzen auf dem Kuchen an und alle sangen: Wie schön, dass du geboren bist.

Sascha Josuweit