Berliner Szenen
: Frau Doktor

Im Bundesarchiv

Ich war nun alsoeine alte Damemit Doktortitel

Das Kirchenschiff der Andrews Chapel, einige Meter hinter dem hohen Zaun an der Finckensteinallee, leuchtet einladend an diesem grauen Tag, als seien Gläubige hier fortwährend willkommen. Ein gewisser Glaube ist auch notwendig, um das Gebäude zu betreten, allerdings wird in der ehemals allen Konfessionen offen stehenden Kirche der US-Amerikaner, 1952 gebaut auf dem Gelände der Preußischen Hauptkadettenanstalt, heute den bibliothekarischen Beständen des Bundesarchivs gehuldigt.

Ich war nachlässig und muss die ausgeliehenen Bücher zur Verlängerung vorlegen, aber in der Bundeseinrichtung kostet mich die Säumnis keinen Cent. Plastikkarten mit Strichcode sind hier ferne Zukunftsmusik, ich lege meinen papiernen Benutzerausweis vor. Die Bibliothekarin erschrickt. Stimmt etwas nicht?

„Das ist nicht Ihr Ausweis“, konstatiert sie und erklärt leicht aufgewühlt: „Der gehört Frau P., einer ganz alten Dame, die häufig hier ist. Ich kenne sie schon sehr lange.“ Seit meinem letzten Besuch im September war ich also eine alte Dame mit Doktortitel, ohne es zu bemerken, was für ein reizvoller Gedanke. Mein Ausweis findet sich tatsächlich noch in der Kartei und wird per Stempel verlängert.

Wenn ich schon einmal hier bin, stelle ich doch gleich eine neue Personenanfrage, denke ich und fahre über das Gelände zum Lesesaal für Archivgut. Ein blauer Zettel ist auszufüllen, und ja, diese Anfrage gilt einer Person, die bekannt war und zwei Jahrzehnte vor 1945 geboren wurde.

Es könnte durchaus sein, dass sich in den Abteilungen zum Nationalsozialismus und zur DDR Dokumente zu ihr finden. Dieser Mensch machte Jazz, ohne selbst Musiker zu sein, er kam aus Berlin und erlangte zeit seines Lebens keinen Doktortitel – sehr sympathisch. Franziska Buhre