Hartnäckiger Prozessbeobachter: Herr Lezius bleibt dran

Vor zwei Jahren starb die dreijährige Yagmur, weil ihre Mutter sie misshandelt hatte. Michael Lezius war beim Prozess. Besuch bei einem, der nicht lockerlässt

Will einen Gedächtnispreis stiften, um im Kinderschutz Engagierte zu fördern: Michael Lezius. Foto: Melina Mörsdorf

Einmal berichtet, dann vergessen: Immer wieder bleiben im journalistischen Alltag Themen auf der Strecke. Die taz.nord möchte mit der Serie „Der zweite Blick“ dranbleiben an Themen, die wir für wichtig halten: Missständen, die wir kritisiert haben, Reformideen und Menschen, die losgezogen sind, die Welt zu verändern.

An fast allen Tagen des Yagmur-Prozesses saß ein Mann mit grauem Haar und runder Brille im Zuschauerraum des Landgerichts Hamburg. Vor Michael Lezius: die Glasscheibe, dahinter der holzvertäfelte Saal, nussbraune Wände, Zeugen, Anwälte, Richter. Eltern, die nicht lieben konnten, die sich gegenseitig die Schuld zuschoben. Eine Mutter, die ihre dreijährige Tochter Yagmur prügelte, bis diese an einem Leberriss starb. Und dazwischen die unerträgliche Frage, wie es ein konnte, dass das Jugendamt Yagmur von der Pflegefamilie zurück in die Obhut ihrer Eltern gegeben hatte. Wie ein soziales Sicherungsnetz trotz etlicher Warnsignale, blauer Flecken, Narben so versagen konnte.

Schwer auszuhalten

Selbst abgebrühte Gerichtsreporter hielten einzelne Prozess­tage kaum aus. Michael Lezius, der so bedacht spricht, als habe er immer ein Ziel in Gedanken, sagt, dass sein Platz nur bei anderen, wirklich wichtigen Terminen leer blieb. „Ich bin ja zum Beispiel auch verheiratet.“

Michael Lezius, Prozessbeobachter

„Ich wusste, wenn ich etwas für den Kinderschutz erreichen will, muss ich das durchstehen. Mein Ziel ist, dass Kinderrecht endlich vor Elternrecht geht.“

An diesem Samstag mit Sonne ist es knapp zwei Jahre her, dass Yagmur starb. Lezius, Rentner, praktische Schuhe, Rucksack, Schritte, die weit in die Welt greifen, sieht genauso alt aus, wie er ist: 73. Er ist unterwegs zu einem Wohnprojekt in der Litzowstraße: Acht gelbe Container auf einem Parkplatz, in denen Flüchtlingsfamilien leben.

Einmal in der Woche malt Lezius in einem der Container mit den Kindern. Was einerseits natürlich ganz anders ist, als an jedem Tag im Yagmur-Prozess zu sitzen. Aber andererseits auch nicht. Weil einer da ist, obwohl er es nicht muss.

Michael Lezius ist jemand, der nicht will, dass man über ihn schreibt, er sei ein Gutmensch. Er ist aber auf jeden Fall jemand, für den ein gutes Leben darin besteht, nicht nur für sich selbst zu sorgen. Lezius gab in seinem Leben schon Lesehilfe für Drittklässler, arbeitete ehrenamtlich im Stadtteibeirat, legte Stolpersteine, engagierte sich gegen den Abriss von Fritz-Schumacher-Häusern.

Abschiebung verhindert

Auch Märchenvorleser für Kinder war er schon. Weil er damals noch in Kassel lebte, fuhr er dafür ein halbes Jahr lang einmal in der Woche mit dem ICE von Hessen nach Hamburg „War vielleicht nicht ganz so vernünftig“, sagt er. Sonst, sagt er, war bisher eigentlich alles ganz vernünftig.

Im Moment betreut Lezius eine Roma-Familie in der Litzowstraße, den Anwalt gegen die Abschiebung bezahlte er. Und: Er hält die Erinnerung an Yagmur wach. In diesem Jahr richtete er zum Todestag eine Gedenkveranstaltung aus. Außerdem sammelte er, um eine Stiftung zu gründen. 20.000 Euro stellte er selbst, die restlichen 30.000 Euro sollen über Crowdfunding kommen. Mit dem Geld will Lezius jährlich einen Yagmur-Gedächtnispreis vergeben an Menschen, die sich im Kinderschutz engagieren.

Warum war es wichtig, dass Sie immer da waren im Yagmur-Prozess, Herr Lezius? „Ich wusste, wenn ich etwas für den Kinderschutz in Deutschland erreichen will, muss ich das durchstehen. Ich wollte politisch-strategisch etwas erreichen. Mein Ziel ist, dass Kinder- endlich vor Elternrecht geht.“ Auch beim Yagmur-Untersuchungsausschuss, der eingeleitet wurde, um das Behördenversagen aufzuarbeiten, tauchte Lezius regelmäßig auf.

„Sie gehören ja zu uns“, sagte der Vorsitzende André Trepoll mal. „Inventar“, nennt Lezius sich selbst. Lezius trug immer schwarzen Anzug und Krawatte, um ernst genommen zu werden. Er sprach mit Politikern und Journalisten. Er las den Abschlussbericht, einen Klopper von über 500 Seiten. Lezius wollte nicht nur Zuschauer sein.

Lezius’ eigener Pflegesohn war zehn Wochen alt, als er 1980 zu ihm kam. Ein Zufall des Lebens, eigentlich wollten Lezius und seine damalige Frau zu den eigenen zwei Töchtern noch ein Kind adoptieren. Aber es gab nur ein Pflegekind. Und Lezius, der damals nicht mal wusste, was der Unterschied zwischen Adoptiv- und Pflegeeltern ist, hatte eine Woche später einen neuen Sohn, der blieb bis heute.

Was er mitgenommen hat aus der eigenen Geschichte als Pflegevater? „Es ist wichtig für einen, wo man herkommt“, sagt Lezius. „Aber noch wichtiger ist, wo man hingeht.“ Zu Beginn dachte er, sie könnten mit der leiblichen Mutter in Urlaub fahren, Wochenenden verbringen. „Vom Jugendamt wurde damals das Konzept propagiert, dass man den Kontakt halten soll wie noch immer befreundete Scheidungseltern.“ Das klappte nicht.

Lezius erinnert sich, wie sein Pflegesohn die leibliche Mutter, die damals Besuchsrecht besaß, bei jedem Treffen fragte, wann sie wieder gehe. Er schrie, wenn er einen VW-Käfer sah, weil die Mutter ihn mit dem gleichen Modell abholte. „Sie hat ihn gedrückt und geherzt. Aber sie war ihm fremd“, erzählt Lezius

Kinderschutz im Argen

Haben nicht auch die leiblichen Eltern trotzdem ein Recht auf ihre Kinder? Lezius findet: „Natürlich muss man das in jedem Einzelfall sehen. Aber wenn eine Rückführung nicht geplant ist, muss das Kind in der neuen Lebensperspektive verbleiben.“ Lezius holte psychologische Gutachten ein, die Besuchsregelung wurde aufgehoben.

Später gab es vereinzelte Kontakte: zur Konfirmation, auch mal Telefonate. „Aber keine guten“, sagt Lezius. Lezius Sohn sagt, dass er sich heute ganz als Lezius fühlt. Lezius sagt: „Wir haben für unseren Sohn alles durchgekriegt, was durchzukriegen war.“

Lezius’ Frau sagt manchmal, dass Lezius stur sei. „Lezius sagt: Ich bin verlässlich. Konsequent.“ Bei Yagmur war keiner konsequent. Wenn etwa Strafanzeigen im Nichts versackten, Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes nicht kommunizierten. So sehr ärgert Lezius das, dass auch seine Stimme mal flattert.Lezius’ Ziel ist, dass in Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention anerkannt wird. Dass Kindesrecht also vor Elternrecht geht.

Er sagt, dass Kinderschutz in Deutschland auch zwei Jahre nach Yagmur noch immer sei, als ob man ein Haus bauen wolle, Architekten und Handwerker aber nicht kooperierten. „Auf struktureller Ebene hat sich nichts geändert, die Kinderschutzbeauftragten werden nicht ernst genug genommen von der Basis, von den Mitarbeitern, die sich um die Familien kümmern.“ Er sagt, dass bei vielen Mitarbeitern des Allgemeinen Sozialen Diensts der Glaube an die leibliche Familie nach wie vor zu tief verwurzelt sei.

Im Container in der Litzowstraße verliert man heute den Überblick zwischen syrischen Müttern mit Wörterbüchern, Väter in Jogginghosen. Mittendrin, umringt von einer Kinderhorde: Lezius, der mit einem Mädchen, vielleicht ist sie zwei Jahre alt, bunte Pünktchen malt. „Meine Enkelkinder wohnen verstreut, das ist auch ein bisschen Wahlverwandtschaft hier“, sagt er. Seine Mitmalerin spricht kein einziges Wort Deutsch, aber strahlt, dass der ganze Raum mit ihr lebendig wird. Lezius strahlt mit.

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