Senioren daddeln gegen das Vergessen

Therapie Das Hamburger Unternehmen „Retrobrain“ entwickelt Videospiele für Demenz-Patienten. Beim virtuellen Kegeln sollen Senioren Koordination und Feinmotorik verbessern

Für bessere Koordination: virtuelle Mopedfahrt  Foto: Abb.: © Retrobrain

Die 82-Jährige Gerda Schmidt* fährt gerne Motorrad. Einem entgegenkommenden Auto weicht sie durch eine Gewichtsverlagerung vom linken auf das rechte Bein aus. In der nächsten Kurve wippt ihre schneeweiße Dauerwelle auf und ab. Schmidt sitzt nicht auf einer echten Maschine – sie spielt auf der Spielekonsole „Memore. Ihre Mitbewohner aus der Auguste-Viktoria-Stiftung applaudieren ihr dabei.

Was auf den ersten Blick wie ein Seniorennachmittag in Zeiten der Digitalisierung anmutet, hat einen therapeutischen Hintergrund: Schmidt ist dement und das Spiel wurde eigens für Patienten wie sie entwickelt. Das Hamburger Social Startup „Retrobrain hat sich mit der Spielekonsole „Memore“ auf Patienten mit leichter bis mittelschwerer Demenz spezialisiert. Neben Gaming-Experten waren bei an der Entwicklung auch Mediziner, Pflegewissenschaftler und Demenz-Forscher beteiligt.

Die Konsole soll die Senioren nicht nur unterhalten: Die Gewichtsverlagerungen während des Motorradspiels trainieren das Gleichgewicht und die Koordination. Das ist wichtig, weil viele der weltweit 46 Millionen Demenz-Patienten in ihren Bewegungen und Schritten unsicher sind. Auch das Postbotenspiel, in dem die Spieler ein Fahrrad lenken und gleichzeitig mit dem rechten und linken Arm Briefe austragen, soll die Koordination und Feinmotorik schulen. Schmidt mag am liebsten das virtuelle Kegeln – die Bewegungsabläufe sind vertraut.

Kein ganz neuer Ansatz: Zahlreiche Studien belegen die positiven Wirkungen nicht-medikamentöser Therapiemaßnahmen auf das kognitive Leistungsvermögen und die Verlangsamung des Krankheitsverlaufs bei Demenz-Patienten. Allerdings übernehmen Gleichgewichts- und Koordinationstraining bisher vor allem Ergo- und Physiotherapeuten – und keine Spielkonsolen. „Wir sehen Memore nicht als Konkurrenz zu bestehenden Therapieangeboten und wollen auch keine Therapeuten ersetzen“, erklärt Mitgründer Manouchehr Shamsrizi.

Die Konsole fordert die Senioren zum Spielen auf

Es gehe vielmehr darum, die Demenz-Therapie sinnvoll zu ergänzen, indem die Spiele Behandlungslücken ausgleichen und die Patienten zusätzlich zur Bewegung motivieren. Nicht jede Senioreneinrichtung könne sich tägliche Therapieangebote leisten und das Pflegepersonal habe im Alltag nur wenig Zeit für Gewichtsübungen oder Koordinationsaufgaben, sagt er.

Die kleine Box neben dem Fernseher können die Senioren dagegen selbstständig nutzen. Einmal eingeschaltet läuft die Konsole den ganzen Tag und meldet sich sogar proaktiv mit der Aufforderung zum Spielen. Die Steuerung erfolgt ausschließlich über Bewegungen, Controller oder komplizierte Menüs gibt es nicht.

In 14 Hamburger Senioreneinrichtungen wird das Konzept derzeit getestet. Die Erfahrungen seien gut, sagt Shamsrizi – die Bewohner hätten kaum Berührungsängste. Die Wirksamkeit der Konsole wird zudem von Forschern des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, der Berliner Charité und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung untersucht.

Mit der wissenschaftlichen Begleitung soll die Qualität der Spiele verbessert und weitere therapeutische Dimensionen wie personalisierte Musik ergänzt werden. Die Gründer hoffen langfristig auf die Zulassung von „Memore“ als Medizinprodukt und damit auf eine teilweise Kostenübernahme durch die Krankenkassen und Pflegeversicherungen. Bisher müssten die Einrichtungen nach Ende der Testphase im nächsten Jahr die Miete für das Gerät selbst aufbringen. Eine Wirksamkeitsstudie samt Kostenschuss wäre ein wichtiges Verkaufsargument.

*Name geändert Birk Grüling