Links, wo das Herz sitzt

Die Grünen haben es sich in der Opposition gemütlich gemacht – und sie weichen der vom Wähler übertragenen Verantwortung aus. So verpasst die Ökopartei ihre Zukunft

Die Linke hat es versäumt, soziale Gerechtigkeit im Weltmaßstab zu definieren

„Aber die Grünen waren von Anfang an auch eine metapolitische Partei, die einzige in unserem Parlament, die sich für eine Sphäre jenseits des Sozialen interessierte und engagierte. Eine Gaia-Partei, feminin und heidnisch, den Elementen Licht, Wind, Erde, Gewässer verantwortungsvoller zugewandt als dem allgemeinen wirtschaftlichen Wohlergehen. […] Wäre da nicht der Gesinnungsfaktor. Ein hemmendes Enzym, welches das neugierige Geistesleben im Allgemeinen, das Selbstverständnis einer linken Gruppierung aber im Besonderen einschränkt.“ Botho Strauß

Die Ökologie ist der politische Zaubertrank, in den die Grünen bei ihrer Geburt gefallen sind. Er macht sie stark und fast unverletzlich. Nur wegen der zivilisierenden Wirkung des Umweltschutzes konnte dieses Partei zur Heilanstalt für überhitzte Ideologen aller Schattierungen von Rot werden. B. Ulrich

Der rechtsverdächtige Dichter Botho Strauß, Tiefendiagnostiker gesellschaftlicher Oberflächen und zeitgenössischer Beziehungsgeflechte, legt den Grünen nahe, schwärzer zu werden, um sich mit grüner gewordenen Schwarzen zu einer modernen Elementarpolitik zu verbünden. Der ehemalige Sponti Bernd Ulrich, heute politischer Kopf einer liberalen Wochenzeitung, empfiehlt den Grünen, strategisch für Jamaika (und gegen Kuba) zu votieren. Von derlei Vorschlägen aus der Renegatenecke unbeeindruckt, hat die Umworbene es vorgezogen, den vorbildlichen Wahlverlierer zu spielen: Während die SPD gerade vormacht, wie man unter widrigsten Bedingungen politisch geschäftsfähig bleibt, verzichtet die grüne Partei souverän auf die mögliche Machtperspektive, nimmt brav auf der Oppositionsbank Platz und driftet erkennbar nach links – als ob man sich von den Anstrengungen der Regierungsverantwortung erholen müsse, die einem ständig Entscheidungen gegen die inneren Überzeugungen abgerungen hat.

Opposition ist keine Schande. Sich aus dem gescheiterten rot-grünen Projekt jedoch in die Unzuständigkeit zu flüchten und Identitätswunden zu pflegen, anstatt aus diesem Scheitern zu lernen, kann geradewegs in den politischen Freitod führen. Was aber sind die Lehren? Der Souverän erwartet Antworten auf die Dauerkrise von Arbeitsgesellschaft und sozialen Sicherungssystemen, die offenbar weder mit den kalten Rezepturen des Neoliberalismus noch mit den palliativen Medikamenten wohlfahrtsstaatlicher Wärmetherapien zu bewältigen ist. Er erwartet Antworten auf die ökologischen Großprobleme, die sich inzwischen der alltäglichen Umwelterfahrung aufdrängen. Er erwartet Antworten auf die Realität einer kapitalistischen Globalisierung, deren Wirkungen zunehmend auf die reichen Länder zurückschlagen und gegen die keine Festungen helfen – weder die Festung Europa noch die Festung Sozialstaat noch eine feste Gesinnung. Helfen wird nur eine unternehmerische Gesellschaft, die sich selbstbewusst den Herausforderungen einer zusammenwachsenden Welt stellt, ohne die Solidarität mit den Schwächeren aufzukündigen. So könnte man die rätselhafte Botschaft des imaginären Gesamtwählers verstehen: Vom Weltgeschehen gewiss auch irritiert, überfordert oder gar verängstigt, entwickelt er eine Ahnung davon, dass die unvermeidlichen Veränderungen nicht nur Gefahr, sondern auch Rettung bedeuten können. In unsicheren Zeiten verlangt er nach zukunftsweisenden Konzepten ebenso wie nach politischer Führung – und hofft auf die Grünen, bei denen er beides zu Recht vermuten kann.

Und was tut der Adressat solcher Erwartungen und Hoffnungen? Statt die Gunst der Stunde zu nutzen und in ernsthaften Verhandlungen mit den eigenen Pfunden zu wuchern, schwelgte die grüne Partei in den Konjunktiven des Unmöglichen, des Unzumutbaren, des Unerhörten. In fundamentalistischer Manier beschwor man die Parteiseele, die für die Teilhabe an der Macht nicht verkauft, die Inhalte, die nicht verraten, die Wählerschaft, die nicht getäuscht werden dürfe. Man werde dem anderen Lager keinesfalls jene Mehrheit verschaffen, die ihm das Volk schließlich verweigert habe, hieß es im Brustton der Überzeugung (übrigens unisono bei Grünen und FDP – ein oppositioneller Gemeinschaftschor, in den selbstverständlich auch die Linkspartei einstimmte, für die das neoliberale Feindeslager bekanntlich schon bei Rot-Grün beginnt). Im identitätsstiftenden Abgrenzungsdiskurs erstickte jede bunte Fantasie, bis am Ende aller Farbmischungen nur noch das Grau-in-Grau einer Großkoalition übrig blieb.

Trotz gegenteiliger Behauptungen träumen etliche Grüne von einer linken Mehrheit, zu der man sich eines Tages mit der traditionellen und der Retrolinken zusammenschließen könnte: einer „Gerechtigkeitsmehrheit“ gegen den neoliberalen Mainstream. Aber ausgerechnet unter der Pathosfahne der Gerechtigkeit dagegen zu Felde zu ziehen, dass die Armen dieser Welt das globale Wohlstandsgefälle durch Arbeitsmigration zu überwinden versuchen – genau das tut Oskar Lafontaine mit seinem national bornierten Sozialpopulismus, der gezielt „das Rechte im Linken“ (Oskar Negt) bedient –, ist alles andere als links. Im Schlagwort von der „sozialen Kälte“, system- und globalisierungskritischer Kampfbegriff erster Güte, steckt mehr Romantik, als so mancher aufgeklärte Kritiker des Neoliberalismus sich träumen lässt. Mit romantischen Vorbehalten gegen die Moderne lässt sich jene Leere nicht füllen, die der unbewältigte Utopieverlust bei der Linken hinterlassen hat (es sollte uns zu denken geben, dass sich das islamistische Zerrbild vom habgierigen, sozial kaltherzigen und moralisch verderbten Westen nicht zuletzt auf Traditionen einer spezifisch deutschen, kapitalismusskeptischen, antiwestlichen Modernekritik berufen kann).

Letzten Endes hat die Linke es versäumt, den Begriff der sozialen Gerechtigkeit im Weltmaßstab zu definieren. Schließlich verweisen die Ereignisse von Melilla und Lampedusa auf die Realität einer ökonomisch bedingten Wanderungsbewegung, die bereits unter der Oberfläche des Visaskandals erkennbar war: Die Menschen aus Osteuropa und Afrika drängen in die kapitalistischen Paradiese, um im reichen Westen Arbeit zu finden und ihr Glück zu machen. Unter diesen Umständen ein linkes Urthema an der Erhaltung exklusiver, privilegierter Tarifstandards festzumachen, ist nicht nur illusionär, sondern auch zutiefst ungerecht gegenüber den Arbeitslosen hierzulande und im Rest der Welt.

Die grüne Partei schwelgt in den Konjunktiven desUnmöglichenund Unzumutbaren

Für die grüne Partei, gerade, wenn sie sich als „moderne Linke“ versteht, liegt die Zukunft nicht in der Vergangenheit klassenkämpferischer Rhetorik. Sie muss sich intellektuell, moralisch und politisch zu neuen Ufern aufmachen – „Witterung“ aufnehmen, wie Botho Strauß das nennt. Jetzt eben ohne ihren strategischen Kopf, den sie mitten im besten Politikeralter in die Frührente haben ziehen lassen müssen, weil er für die Opposition nicht zu haben war.

MARTIN ALTMEYER