Im Bann des Luftkriegs

Bombardieren Den Feind aus der Luft zu bekämpfen, davon träumen die Militärs seit mehr als hundert Jahren. Den Krieg entscheidet das aber nicht

Rudolf Walther

Foto: Marc Latzel

ist freier Publizist und lebt in Frankfurt am Main. Im Oktober Verlag Münster ist bereits der vierte Band mit seinen Essays, Kommentaren und Glossen erschienen: „Aufgreifen, begreifen, angreifen“.

Wenn die „Realpolitik“ mit ihrem Latein am Ende ist, flüchtet sie sich in die Scheinwelt und holt sich Rat beim Militär. Keine besonders kluge Idee. In seinem Buch „Narren, Nulpen, Niedermacher“ (Verlag zu Klampen 1998) nannte der Historiker Geoffrey Regan die zahlreichen „militärischen Blindgänger“ in der Geschichte beim Namen. Sie stehen für Wahn, Legenden und Mythen, und das gilt besonders für das sich momentan wieder en vogue befindliche Patentrezept: „Bombardieren aus der Luft“ oder wenigstes „Mithelfen beim Bombardieren“.

Moral brechen

Bereits 1899 einigten sich die großen europäischen Staaten auf ein Verbot, Granaten und Bomben aus „fliegenden Maschinen“ abwerfen zu lassen. 1907 wollte die Mehrheit der Staaten auf der Haager Friedenskonferenz das vernünftige Verbot nicht mehr erneuern, beschränkte es aber wenigstens auf Angriffe gegen Unbewaffnete.

Als Vater der Luftkriegsstrategie gilt der italienische General Giulio Douhet (1869–1930), der das strategische Konzept der Bombardierung von Städten 1921 in seiner Schrift „Il dominio dell’aria“ („Luftherrschaft“) entwickelte. Das Buch wurde sofort in viele Sprachen übersetzt und beflügelte die Fantasten in den Kriegsakademien und Generalstäben.

Douhet plädierte für den Einsatz von Bombern gegen Städte und Industrieanlagen, weil die Entscheidung über den Kriegsausgang nicht länger auf den Schlachtfeldern falle. Mit der Zerstörung von Städten sollten nicht nur die Moral der Zivilbevölkerung und die Kampfbereitschaft der Soldaten gebrochen, sondern obendrein den befehlenden Generälen des Gegners das Vertrauen und dessen Regierung die Legitimation entzogen werden. Douhet lehnte „jede Unterscheidung zwischen Kriegführenden und Nichtkriegführenden“ kategorisch ab.

Derlei gilt völkerrechtlich mittlerweile als Kriegsverbrechen, hindert aber die Generalstäbler und zivilen Kriegsherren bis heute nicht daran, den „Krieg gegen den Terror“ mit Kampfflugzeugen zu führen und die toten Zivilisten als „Kollateralschäden“ zu verbuchen.

Praktisch vorangetrieben wurde die Luftkriegsführung schon nach der ersten Kanalüberquerung in der Luft durch Louis Blériot am 25. 7. 1909. Im britischen Generalstab entdeckte man die strategische Bedeutung der technischen Entwicklung: Die Überlegenheit zur See und die Insellage des Landes boten keine Sicherheit gegen einen Angreifer aus der Luft. Anfang August 1909 debattierte das Unterhaus erstmals über „Luftschiffe im Krieg“.

1912 wurde das Flying Corps, der Vorgänger des Royal Naval Air Service und der späteren Royal Air Force, gegründet. In Frankreich kam Oberst Paul Barrès in einem Memorandum vom 22. 10. 1916 zu dem Schluss, deutsche Angriffe mit Luftschiffen müssten sofort „mit einem Gegenangriff auf offene deutsche Städte“ beantwortet werden.

Im Frühsommer 1917 griffen deutsche Doppeldecker vom Typ „Gotha IV“ englische Städte an, wobei es über 400 Tote und etwa 1.000 Verletzte gab. Bei den französischen und britischen Angriffen auf Köln, Düsseldorf, Mannheim, Karlsruhe und Freiburg kamen insgesamt 768 Menschen um. In der britischen Generalität sah man nun „in Luftoperationen mit ihren Verwüstungen von Feindesland und Zerstörungen von Industrie- und Wohnzonen im großen Stil die wichtigste Kriegsoperation“.

Politisch-moralisches Dilemma

Dieser Traum erfüllte sich nie und nirgends. Aber schnell dämmerte das politisch-moralische Dilemma, in das solche Kriegführung führt. Mit der spekulativen Hoffnung, den Kampfwillen oder die Moral eines Landes zu brechen, präventiv Unbewaffnete ermorden? Das „War Manual“ der Royal Air Force von 1935 empfahl unter dem Stichwort „moralische Wirkung“: „Zwar sollte die Bombardierung geeigneter Ziele dem Feind beträchtliche materielle Schäden und Verluste beibringen, doch wichtiger und weiter reichend ist die moralische Wirkung der Luftangriffe.“ Welche „moralische Wirkung“ will man mit der Bombardierung der Terrorbanden des „Islamischen Staates“ erreichen?

In die Steinzeit bomben

Arthur Harris, Chef der britischen Bomberstaffeln im Zweiten Weltkrieg, versimpelte das „War Manual“ zum moralischen Passepartout für seine Piloten: „Es ist klar, dass jeder Zivilist, der mehr produziert, als er für den eigenen Lebensunterhalt braucht, einen positiven Beitrag zu den deutschen Kriegsanstrengungen leistet und daher ein geeignetes, wenn auch nicht unbedingt lohnendes Angriffsziel ist.“ Churchill nannte diese Strategie 1945 beim Klarnamen: Terror.

Welche „moralische Wirkung“ verfolgt die Bombardierung des „Islamischen Staates“?

Nach 1945 wurden solche robusten Rechtfertigungen rhetorisch verdünnt und völkerrechtlich als Verbrechen sanktioniert. Aber noch Adelbert Weinstein, der oberste Schreibtischkrieger der FAZ, rechtfertigte das Flächenbombardement mit dem erklärten Ziel, Vietnam „in die Steinzeit zurückzubomben“ (General William Westmoreland), als „Politik aus der Luft“ (FAZ vom 4. 3. 1965) genauso wie der US-amerikanische General Curtis LeMay (1906–1990), Stratege der Berliner Luftbrücke (1948/49) und später kompromissloser Apologet der „massiven Vergeltung“ („massive retaliation“), notfalls mit Atomwaffen: „There are no innocent civilians.“

Seit dem 17. Jahrhundert gibt es Bemühungen, das Geschehen auf den Schlachtfeldern humanitär und völkerrechtlich zu bändigen – mit bescheidenen Erfolgen. Nirgends ist die „barbarische Freiheit der schon gestifteten Staaten“ (Kant) beim Kriegführen größer als im Luftkrieg – das zeigt ein Blick auf die Luftkriege gegen Guernica, gegen die Zivilbevölkerung in Europa und Japan im Zweiten Weltkrieg und gegen Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak, Israel/Palästina, Libyen und andere Länder nach 1945.

Nie und nirgends war der Luftkrieg kriegsentscheidend. Charles Portal, der Chef der Royal Air Force, plädierte im Zweiten Weltkrieg für „das moral bombing“, um die deutsche Zivilbevölkerung zu zermürben.

Aber nicht der Luftkrieg, sondern die Landung der Alliierten und der Vormarsch der Roten Armee beendeten den Weltkrieg. Noch trüber sieht die Bilanz des seit 2001 auch als Luftkrieg geführten „Krieges gegen den Terror“ aus – jener fördert nur diesen. Rudolf Walther