Türkei"Cumhuriyet"-Chefredakteur droht lebenslange Haft. Vorwurf Spionage
: Schlag gegen kritische Presse

Istanbul taz | „Ein schwarzer Tag für die Presse“, titelt die wichtigste regierungskritische Tageszeitung Cumhuriyet am Freitag und stellt ein Foto ihres Chefredakteurs Can Dündar dazu. Denn seit Donnerstagabend sitzt Dündar gemeinsam mit dem Chef des Hauptstadtbüros der Zeitung, Erdem Gül, im Knast. Am Morgen waren beide noch relativ optimistisch zur Vernehmung bei Gericht ge­fahren, am Abend gab es von Optimismus keine Spur mehr. Angeklagt werden Dündar und Gül wegen Spionage, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und dem Versuch, die Justiz zu manipulieren. Beiden droht lebenslange Haft.

Der konkrete Anlass ist eine große Enthüllungsgeschichte, die Cumhuriyet Ende Mai diese Jahres, kurz vor den Wahlen am 7. Juni präsentierte. Es geht um die geheime Bewaffnung syrischer Islamisten durch die Türkei, genauer gesagt durch den türkischen Geheimdienst MIT. Es geht um die Hintergründe eines großen Waffentransports, der im Januar 2014 aufgeflogen war, weil Polizisten mehrere Lkws, die auf dem Weg zur syrischen Grenze waren, anhielten und feststellten, dass sie bis oben hin mit Waffen beladen waren.

Schnell hatte sich herausgestellt, dass der Transport vom MIT organisiert und begleitet wurde. Da die Polizisten mit der Unterstützung örtlicher Staats­anwälte darauf bestanden, die Lkws zu beschlagnahmen, wurden sie und die beteiligten Staatsanwälte vom Dienst suspendiert und später in einem Geheimverfahren angeklagt und verurteilt.

Die Sache schien unter den Teppich gekehrt, bis Cumhuriyet mehr als ein Jahr später und dazu noch kurz vor den Wahlen spektakuläre Fotos der Beschlagnahmeaktion präsentierte. Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der die Waffentransporte noch als Ministerpräsident verantwortet hatte, rea­gier­te auf höchste erbost. „Die­jenigen, die diese Story geschrieben und platziert haben, werden dafür einen hohen Preis zahlen“, sagte er zwei Tage nach der Veröffentlichung. Auf seine persönliche Anweisung, wurde daraufhin die Anklage gegen Dündar und Gül vorbereitet. Nach dem Wahlsieg der AKP am 1. November können beide nicht mehr auf Nachsicht hoffen.

Can Dündar ist einer der führenden Intellektuellen des Landes. Er drehte wichtige Dokumentarfilme, veröffentlichte Bücher und präsentierte Talkshows im Fernsehen, bevor er 2013 Chefredakteur der Cumhuriyet wurde und das Blatt für kritische Kollegen, die woanders rausgeflogen waren, öffnete. Die Solidarität sämtlicher aufrechter Journalisten und Autoren des Landes ist ihm sicher. Doch solange Erdoğan Präsident ist, wird ihm das nicht viel nützen.

Ebenfalls am Freitag wurde bekannt, dass auch gegen Bülent Kenes, den Chefredakteur der englischsprachigen Tageszeitung Today’s Zaman, und gegen die beiden Herausgeber der Wochenzeitung Nokta Anklage erhoben wurde. Cevheri ­Güven und Murat Çapan sollen jeweils für 20 Jahre ins Gefängnis, weil die Nokta am 2. November, dem Tag nach der Wahl, auf der Titelseite ein Foto von Erdoğan zeigte, über dem stand: „Der 2. November ist der Beginn des Bürgerkriegs.“ Bülent Kenes soll für 8 Jahre ins Gefängnis, weil er angeblich über Twitter Erdoğan mehrfach beleidigt hat.

Jürgen Gottschlich