Die Ausgewanderten

Düstere Diagnosen: Warum kokettieren konservative Meinungsmacher wie Mathias Döpfner und Frank Schirrmacher mit der Emigration?

Döpfner und Schirrmacher sagen, das System sei kaputt. Warum hat es dann ausgerechnet sie an die Spitze gebracht?

VON CHRISTIAN KORTMANN

Kürzlich sagte Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Axel-Springer-Konzerns, in der Zeit, er würde mangels Zukunftsperspektiven heute auswandern, wenn seine Präsenz für das Wohlergehen Deutschlands nicht so wichtig wäre: „Wenn ich jünger wäre und diese Aufgabe nicht hätte, wäre ich längst weg.“ Mit dieser Aussage schließt er sich seinem Freund und Herausgeber der FAZ Frank Schirrmacher an, der sich zuvor ähnlich geäußert hatte. Beide betonen die Bedeutung ihrer beruflichen Position, die allein sie von der Emigration abhalte, was einen nicht nur über ihren Glauben an die eigene Unersetzlichkeit staunen lässt.

Selbstverständlich könnte man diese Äußerungen als die rhetorischen Volten zweier konservativer Meinungsbildner vorbeirauschen lassen, die enttäuscht sind über den angeblichen Stillstand und die strukturelle linke Mehrheit im Lande und ihren Argumenten im Medienzirkus persönliche Kraft verleihen wollen. Doch je länger man sich die Aussagen durch den Kopf gehen lässt, desto nachhaltiger sorgen sie für Verwunderung: Wieso malen die, denen es am besten geht, die Situation so schwarz? Warum fällt der Ausblick zweier das gesellschaftliche Klima mitbestimmender Figuren derart düster aus?

Zum einen irritiert, dass derzeit neben anderen Medienunternehmen ja auch Axel Springer und die FAZ die 30 Millionen Euro teure Kampagne „Du bist Deutschland!“ anschieben, in der genau das Gegenteil behauptet wird: dass man als Individuum jederzeit groß rauskommen könne, wenn man es denn nur ernsthaft versucht. Zum anderen fragt man sich, wie man als Berufsanfänger, der noch nicht alle Ambitionen begraben hat, mit diesem Befund umgehen soll: Nimmt man Döpfner und Schirrmacher als die intimen Kenner der Macht und gesellschaftlichen Durchblicker ernst, als die sie sich inszenieren, muss man ihn als indirekten Rat verstehen, so schnell wie möglich die Koffer zu packen und den Mietvertrag zu kündigen. Als Folge müssten also die jungen und progressiven Kräfte in Scharen das Land verlassen. Geht ihre Diagnose jedoch an der Realität vorbei, wofür einiges spricht, gerät die eigentliche Funktion ihrer Aussagen in den Blick.

Bei beiden klingt ein wenig Selbstüberschätzung mit, so als würden sie dank ihrer gottgegebenen Überlegenheit überall als Selfmademen erfolgreich sein, ob sie nun als Tellerwäscher im amerikanischen Mittelwesten oder Tageszeitungsgründer in Sibirien beginnen. Die Möglichkeit, dass es das oftmals Mittelmäßigkeit und Strebertum honorierende System der Bundesrepublik ist, das ihnen in den vergangenen 20 Jahren zu ihrer herausgehobenen Stellung verholfen hat, schließen sie aus. Dabei wurden beide in wichtigen Phasen ihrer Karriere protegiert, Schirrmacher vom damaligen FAZ-Herausgeber Joachim Fest und Döpfner von der Verlegerwitwe Friede Springer, und sind somit auch systemimmanente Erbprinzen der Macht, was eine interessante Frage aufwirft: Wenn dieses System nämlich so kaputt ist, wie beide behaupten, warum hat es dann ausgerechnet sie an die Spitze gebracht?

Obwohl beide erst in ihren Vierzigern sind, scheinen sie in ihren Jobs mit Chauffeur der Realität der gegenwärtigen Berufsanfänger entrückt: Denn längst wird die Option, im Ausland Karriere zu machen, von einer breiten Schicht registriert. Von den Akademikern um die 30 hat die Mehrheit ein oder mehrere Semester im Ausland verbracht und auch die Probleme der dortigen Arbeitsmärkte kennen gelernt. Unter Abwägung dieser Alternativen entscheiden sich die meisten fern jeglichen Patriotismus aus pragmatischen Gründen für Deutschland als Standort ihrer Ich-AG und sind bereit, für moderaten ökonomischen Erfolg ebenso sich selbst wie die Verhältnisse zu ändern. Denn man weiß sehr genau, dass es das Dorado, in dem Gold und Glück auf einen warten, auch jenseits der Landesgrenzen nicht gibt.

Wenn man sich nun von bestbestallten Entscheidungsträgern bescheinigen lassen muss, dass man in diesem Gesellschaftssystem keine Chance haben wird, selbst Entscheidungsträger zu werden, dann setzt deren Analyse das Problem fort, das sie kritisiert. Denn hier scheint die nächste Blockadestufe in der Hierarchie der Macht erreicht, weil jede berufliche Chance, die man sich noch ausrechnet, von denen, die es vorgeblich wissen müssen, zur reinen Illusion entwertet wird. Die derzeitigen selbst ernannten Eliten gestehen damit ein, den Boden derart ausgesaugt zu haben, dass keine Leistungselite mehr nachwachsen und man das Fußvolk ebenso gut fortschicken kann.

In einer gewissen Gesellschaftsschicht scheint man sich seiner Pfründe lebenslänglich sicher zu sein und sich für derart unantastbar zu halten, dass die Verbindung zu untergeordneten Schichten gekappt und der Nachwuchs gedemütigt wird. Anstatt machtvolle Positionen dafür zu nutzen, die Entwicklung progressiver Kräfte zu fördern, wird aufkeimendes Innovationspotenzial mit dem Totschlagargument, besser auszuwandern, erstickt. Das erinnert an die Aussage Joschka Fischers, um sich seiner Nachfolge würdig zu erweisen, hätten die jungen Grünen ihn stürzen müssen. Wie in seinem Wort von der „Playback-Generation“, die nach ihm als einem „der letzten Live-Rock’n’Roller“ komme, klingt auch bei der Auswanderungsempfehlung Verachtung für die potenziellen Nachfolger und Konkurrenten mit, denen man nichts mehr zutraut, weil man ihnen jahrelang keine Chance gegeben hat.

So ist in der indirekten Aufforderung, auszuwandern, auch die Herausforderung enthalten, es erst recht vor Ort zu versuchen, selbst wenn man überhaupt nicht „Deutschland sein“ will. Es gilt vielmehr, die gegenwärtige Bundesrepublik als ein non-nationalistisches Gesellschaftssystem zu begreifen, das mit anderen Systemen konkurriert, dem Eingeborenen aufgrund seiner kulturellen Detailkenntnis jedoch Wettbewerbsvorteile bietet. Den Problemen, die sich einem hier stellen, wird jeder, der hochqualifizierte, anspruchsvolle Arbeit leisten will, früher oder später auch in jedem anderen System begegnen. Wenn man bedenkt, welchen kulturellen Leistungen Mathias Döpfner seine Position verdankt, etwa der hohen Auflage von Bild, will man ihm den Marktplatz Deutschland nicht kampflos überlassen: Denn würde nicht auch eine weniger zynische Boulevardpresse zur Verbesserung des gesellschaftlichen Klimas beitragen?

Sicher, die – zumindest zeitweilige – Auswanderung ist eine reizvolle Option, die man sich stets offen hält. Denn es gibt viele Orte auf der Welt, an denen das Essen besser schmeckt, die Landschaft schöner ist und die Menschen gelassener sind. Doch von Döpfner und Schirrmacher will man sich nicht fortschicken lassen: Ihre Äußerungen erinnern einen zu sehr an das separatistische Gehabe von Altmitgliedern in einem Golfclub mit Aufnahmestopp oder an die VIP-Box eines gut gefüllten Oktoberfestzeltes, in dem man sich prächtig amüsiert, vor dem geschlossenen Eingang jedoch Sicherheitspersonal postiert, das Neuankömmlingen den Besuch eines Volksfestes in einer anderen Stadt empfiehlt.