Hausbesuch Ein alter Jagdhof am Rande Berlins. Anne Tlach und Max Göbel leben hier – und arbeiten an ihrem gemeinsamen Projekt: einem Naturkindergarten, in dem auch ihr Sohn Justus spielt
: Anstrengend. Und extrem beglückend

Max, Justus und Anne in ihrem Wohnzimmer unter dem Dach. Jeder Tag ist anders: Holz hacken. Neue Mitarbeiter schulen. Wie kann die Heizung schon wieder kaputt sein? Wie näht man eine Jurte?

VON Susanne Messmer
(TEXT) UND AmÉlie Losier (FOTO)

Berlin-Wannsee, zu Besuch bei Anne Tlach (36), Max Göbel (36) und Justus Tlach Göbel (4).

Draußen: In der Nähe vom Wirtshaus Moorlake geht es durch ein verfallenes Tor zum Jägerhof Glienicke, 1828 nach den Plänen von Karl Friedrich Schinkel erbaut: Wie in den Wald geduckt zwei altrosa Gebäude im Stil der englischen Tudor-Gotik mit Reetdächern, ein Wohnhaus für die Jäger und Hundewärter, daneben ein Haus für die Hundemeute und die Pferde. Der weitläufige Garten mit uralten Bäumen wurde von Peter Josef Lenné angelegt. Während des Zweiten Weltkriegs Lazarett, ab 1947 Erholungsheim für körperbehinderte Berliner Kinder. Nach acht Jahren Leerstand 2012 vom Träger der freien Jugendhilfe NaturKulturGut Jägerhof gepachtet und saniert, seither Kindergarten, wo die Kinder den Großteil der Zeit in der freien Natur verbringen.

Drin: Es geht durch eine Vorhalle mit Kamin eine schwere Holztreppe hinauf ins Dach: Die Wohnung ist eine Flucht mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad. Niedrige Decken, Dachschrägen, kleine Fenster, geölte Dielen. Graues Ecksofa, Indianerzelt, Ikea-Küche. Am kleinen Küchentisch mit Blick in die Bäume gibt es Kaffee aus zartem Porzellan mit Rosen.

Wer macht was: Vieles probiert, bevor sie 2012 den Jägerhof entdeckten. Justus: lebt hier und geht hier in den Kindergarten. Anne: Geschäftsführerin der gGmbH. Hält den Laden zusammen. Stiftungsarbeit, manchmal noch Vorträge und Artikel zu Themen wie frühe Bindung, bindungsbezogenes Arbeiten. Kürzlich um die Ecke ein Familienzentrum gegründet, das Baumschlösschen Wannsee, hier unter anderem Fitnesstanz für Mütter. Sie versorgt die fünf Hühner. Max: Geschäftsführer der gGmbH. Kämpft viel mit Behörden, ist hier auch Hausmeister, Gärtner und für die Katzen zuständig. Jeder Tag anders: Holz hacken. Neue Mitarbeiter schulen. Wie kann die Heizung schon wieder kaputt sein? Wie näht man eine Jurte?

Familie: Annes Familie besteht aus Ärzten und Pädagogen, sie hat ihren Beruf sozusagen „mit der Muttermilch aufgesogen“. Aufgewachsen in den Bergen, Auszug mit 18, WG mit der kleinen Schwester in der nächstgelegenen Großstadt, dort noch zwei Jahre Gymnasium, wo sie Max kennen lernte. Max: „Mittelstand, patriarchalisch organisiert.“ Vater Unternehmer, aber Waldorfschüler. Beide Geschwister arbeiteten im väterlichen Betrieb, das wäre, so Max, der „Weg des geringsten Widerstands“ gewesen. Eigentlich wollten Anne und Max einen ganzen Haufen Kinder, aber jetzt ist ihr neues Baby erst einmal der Jägerhof.

Liebe: Anne und Max haben sich mit 18 in einer „durchgequatschten Nacht“ auf Klassenfahrt verliebt und dann hat es noch einmal ein Jahr gebraucht, bis sie „richtig“ zusammen waren. Drei Mal geheiratet: mit 19 in Israel, eine Fake-Hochzeit, „damit wir in den arabischen Ländern als Ehepaar reisen können“. Einmal auf dem Standesamt in Annes Heimatdorf. Und einmal in den Bergen, eine „Riesensause“. Zum zwanzigsten Hochzeitstag wollen sie noch einmal feiern, eine erwachsene Hochzeit.

Ausblick: der Hof, nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel gebaut

Karriere: Anne: „Wird überbewertet.“ Wollte erst Ethnologie studieren und in den diplomatischen Dienst, kam dann zur Pädagogik. Dann Hebamme aus Leidenschaft, aber fast zehn Jahre lang „haarscharf am Burnout vorbei“. Max: war Projektmanager in einer großen Solarfirma, dann in einer Firma, die Blockheizkraftwerke herstellt. Viel im Anzug, viel im Ausland. „Ich habe mein Yuppie-Leben geführt.“

Umdenken: Erste gemeinsame Auszeit auf Hawaii 2009, spontane Ausbildung von Anne zur Heilmasseurin durch einen Schamanen. Zweite Auszeit von Anne 2010 auf der Schweizer Alp: Rinder hüten, melken, käsen, „Birne frei“. Dann der „absolut einschneidende Entschluss, ein Kind zu kriegen.“

Geburt: Die Geburt von Justus? Au weia. Geburten als Hebamme zu erleben: schön. Das Thema Geburt ist weiterhin präsent. „Es ist absolut bedeutsam für das Kind, wie es geboren wurde, das stellt man auch im Kindergarten immer wieder fest.“ Als Hebamme war es immer um „möglichst harmonische Geburten“ gegangen, jetzt geht es darum, die Geburten der Kinder, mit denen man arbeitet, so anzunehmen, wie sie waren – also oft alles andere als harmonisch.

Bindung: Anne: „Je mehr ich über das Thema weiß, desto mehr Respekt habe ich vor ihm.“ Auch im Kindergarten ist Bindungstheorie zentral. Es geht ­darum, „die Bedürfnisse des Kindes nach Rückversicherung und nach Abenteuer in Einklang zu bringen“ – achtsam und auf Augenhöhe mit den Kindern.

Kindergarten: Jeder mit und ohne Geld und mit und ohne Zeit darf hier mitmachen. Alle werden ernst genommen und in die Entscheidungsprozesse integriert. Außerdem: Alles, was umgesetzt wird, von der Größe der Gruppe bis zu den Auf­gaben der Erzieher, wird durch Studien getragen. Ein Beispiel: Um elf wurden die Kinder unruhig, also Einführung einer „Nusspause“. Sofort ging es entspannter zu. Recherche. Ergebnis: Kindern zwischen drei und sechs fällt es tatsächlich schwer, bis zu drei Stunden nach dem Frühstück den Blutzuckerspiegel zu halten. Diese Arbeitsweise ist „aufwendig, anstrengend und extrem beglückend“ (Anne).

Einblick: die Küchennische unter dem Reetdach

Natur: Am Anfang? Seltsam, so einsam zu leben und nachts die vielen Geräusche aus dem Wald zu hören, die man nicht einordnen kann. Inzwischen? Die Natur hat am meisten gefehlt früher. Draußen sein, jeden Tag, „das heißt Kraft und Verbundenheit“ (Anne), „das heißt erfülltes Leben“ (Max).

Pläne: Bleiben. Max: „Mehr Zeit für meinen Sohn.“ Anne: Eine Grundschul-Waldklasse im Jägerhof gründen. „Bisher haben wir – auch im Dialog mit weiteren Partnern – keinen Grund, nicht optimistisch zu sein.“ Justus: „Einen Kuchen backen.“

Merkel: „Preußische Pfarrerstochter“ (Max). „Wer sie ist, weiß ich nicht“ (Anne). Trotzdem: Viel Respekt für ihren ­Impuls für die Willkommenskultur. Anne: „Das wird auch in den nächsten Jahren bedeutsam bleiben.“

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