Symbol der Heilung

Die gesamte Stadt leidet nach wie vor unter dem Phantomschmerz ihrer untergegangenen Gebäude Wohin es mit der Frauenkirche geht, zeigt die Sonderöffnung der Geschäfte am Weihetag

AUS DRESDEN MICHAEL BARTSCH

Aus dem „Wunder von Dresden“ wird ein „Deutsches Wunder“, aus der Weihe ein „Dank- und Freudenfest“. Superlative und Pathos um die Dresdner Frauenkirche, die morgen geweiht wird, versetzen die einen in kollektiven Taumel, während sich die Spätromantiker der DDR-Friedensbewegung die Ohren zuhalten. Die eine Dimension des Wiederaufbaus hat Spender aus aller Welt vereint, das britische Königshaus nach Dresden geholt und den Sohn eines früheren englischen Bomberpiloten zum Schmied des Kuppelkreuzes, gestiftet vom „Dresden Trust“, werden lassen. Bedenken gegen die Art und Funktion des Wiederaufbaus aber sind dieselben wie 1990, obschon sie seit zehn Jahren kaum mehr öffentlich zu hören sind.

Mit dem Baufortschritt wuchs auch die Kraft des Faktischen. Etwas wachsen zu sehen ist allemal angenehmer als das Menetekel der Ruine. So hat die Optik den Sieg davongetragen. Das „Symbol der Versöhnung“ aber spaltet nach wie vor – selbst die für den Wiederaufbau Hauptverantwortlichen. So wurde der erste Geschäftsführer des Stiftungsvereins, Claus Dieter Heinze, nicht zur Weihe eingeladen. Er hatte 1993 die Misswirtschaft aufgedeckt, die dem Chef des Stiftungsrats und Trompetenvirtuosen Ludwig Güttler zugeschrieben wurde.

Am wenigsten polarisiert die Frauenkirche als Bauwerk an sich – und in ihrer städtebaulichen Wirkung. Wer sich der Magie dieses „protestantischen Petersdoms“ aussetzt, erliegt ihr auch. Es ist ein vor allem in die Höhe wirkender gewaltiger Zentralbau, opulent für eine Predigtkirche. Barocke Pracht statt calvinistischer Kargheit. Ein Aufstieg zur Laterne in 70 Meter Höhe weckt Bewunderung dafür, wie der Ratszimmermeister George Bähr seinerzeit die „Steinerne Glocke“ allein mit der „gefühlten Statik“ seines Genies konzipierte.

Modernste Haus- und Sicherheitstechnik, keine Gebrauchsspuren, Farbgeruch: der Innenraum wirkt wie ein Neubau. Äußerlich erinnern die eingebundenen Reste des Chores und des Nordwestturms sowie die teils wieder verwendeten Steine noch am ehesten an die Zerstörungsgeschichte. Dem kürzlich verstorbenen Nestor der Dresdner Denkmalpflege, Hans Nadler, ist es zu danken, dass der Trümmerberg mit seinen beiden Ruinenstümpfen erhalten blieb. Anklagend. Auch ohne die 1966 erfolgte offizielle Deklaration sprach er als Mahnmal gegen den Krieg für sich.

Immerhin, wie der Wiederaufbau dann ausgeführt wurde, das nötigt Bewunderung ab. Das archäologische Konzept führte zum „größten Puzzle der Welt“: Jeder geborgene Stein wurde vermessen, auf seine Wiederverwendung geprüft, mit Computerhilfe lokalisiert.

Die Frauenkirche wirkt als Wahrzeichen und Dominante der Innenstadt, sie komplettiert den berühmten Canaletto-Blick über die Elbe. Aber es geht um mehr. Im Grunde leidet die gesamte Stadt nach wie vor unter dem Phantomschmerz ihrer untergegangenen Gebäude. Es ist verständlich, wenn vor allem ältere Dresdner nun liebevoll von der Heimkehr der „Mutter“, der „Henne“ oder der „Alten Dame“ sprechen. Der Glanz der legendären Kuppel mildert das Zerstörungstrauma. Er schafft zugleich ein Gegengewicht gegen den seelenlosen Architekturramsch, der Dresden nach 1990 verwechselbarer machte. Sogar die Altmarkt-Bauten im Stalin’schen Zuckerbäckerstil erscheinen da sympathischer. Zeitgenössische Architektur stiftet keine Identität, und so wird die Harmonie in historischen Kopiebauten gesucht. Solche entstehen derzeit auch nahe der Frauenkirche am Neumarkt. Man sieht ihnen den Zweitaufguss allzu deutlich an. Auch Touristen bemerken aber, dass dadurch Sichtbeziehungen zur Frauenkirche wieder verstellt werden, die ausgerechnet die Zerstörungen geschaffen hatten.

Es ging aber nicht allein um das Stadtbild und ein einzigartiges Architekturkunstwerk, als 1990 eine Gruppe um den Pfarrer Karl-Ludwig Hoch mit dem „Ruf aus Dresden“ zum Wiederaufbau aufrief. Die rekonstruierte Kirche sollte den Mahnmalcharakter nicht verlieren, Zeichen setzen als „christliches Weltfriedenszentrum im neuen Europa“. Die Gegner, anfangs in der Mehrheit sowohl in der Landeskirche wie in der Stadtbevölkerung, trauten einem originalen Nachbau eine solche Wirkung nicht mehr zu. Der Ruine und ihrer Wirkung hingegen war man sich gewiss. Die „schwer erträgliche Provokation“ der Ruine solle „Pflichtlektüre“ zur ewigen Friedenspflicht bleiben, schrieb damals Kirchenrat Christoph Münchow, der Bauexperte des Landeskirchenamtes. Man brauche keinen zweiten Berliner Dom. Ihren Luther und seine 95 Thesen hatten Münchow und andere Kritiker gut gelesen, als sie Geld eher für soziale Gerechtigkeit und intakte Infrastruktur als für einen Prachtbau forderten.

Der Grundstein für den Wiederaufbau war bereits gelegt, da unternahm 1995 ein Initiativkreis um den Stadtplaner Michael Kaiser und den katholischen Hofkirchenkaplan Frank Richter einen letzten Versuch, den Mahnmalcharakter stärker zu betonen. Das Konzept der „Verwundeten Kirche“ sah vor, beide Ruinenstümpfe, also auch den Altarraum, so zu belassen und damit stärker vom ansonsten wiederzuerrichtenden Bauwerk abzusetzen: ein Kompromiss zwischen der nicht diskutierten Coventry-Lösung einer konservierten Ruine plus moderner Kathedrale und dem jetzt erfolgten perfekten Kopiebau.

Die teils barsche Abfuhr für solche Ideen kam erwartungsgemäß. Sprach doch aus ihnen der zutiefst christliche, aber eben auch DDR-typische Geist der Demut, der längst vom Zeitgeist der Hybris und des Machbaren abgelöst worden war. Das Feuilleton tat so, als seien die Fragen von Krieg und Frieden mit dem Ende des SED-Regimes erledigt. Die Ruine habe nur gemahnt, „so schnell wie möglich gegenstandslos zu werden“, schrieb Dankwart Guratzsch in der Welt. Eine nationale Trauerstätte im Dresdner Zentrum wirke „lebensfremd und zynisch“. Treffender als bekannte Namen sagt heute ein norddeutscher Tourist aus Eckernförde, was die Frauenkirche jetzt vor allem ist: ein Symbol des Aufschwungs, eine moralische Stütze für die Dresdner, auf dass es vorangehe. „Die Trümmer interessieren doch keinen mehr!“ Vor allem keine Touristen.

Die Sehnsucht nach Heilung in jeder Hinsicht ist groß. Darin ist die Frauenkirche zu einem kollektiven Identifikationssymbol geworden, obschon die meisten Touristen über ein „Oh“ und „Ah“ nicht hinauskommen. Die schwarzen Steine sagen ihnen nichts, die frommen Sprüche am Ausgang lassen sie kalt. Die Sehnsucht ist das eigentliche Phänomen der Kirche. Es erklärt auch die gewaltige Summe privater Spenden: 100 Millionen Euro. So gesehen ist die Frauenkirche weiter, was sie im 18. Jahrhundert schon war: das bürgerschaftliche Gegenstück zur Hofkirche, fast parallel entstanden, nebenan.

Aber auch dieser Mythos ist brüchig: 65 Millionen Euro steuerten Bund, Land und Stadt bei. Mit knapp 180 Millionen Euro kostete der Wiederaufbau so viel, wie Anfang der 90er noch in D-Mark veranschlagt. Fast vergessen ist, dass die erste Stiftung für den Wiederaufbau wegen Überschuldung aufgelöst wurde, dass die Benefizkonzerte des Trompeters Güttler Verluste machten – und die Dussmann-Stiftung ihre gesammelten Spenden sperrte, weil nach einem bizarren Streit über Jahre doch nicht ein Nachbau der Silbermann-Orgel zum Zuge kam, sondern eine moderne des Straßburgers Daniel Kern.

Am Sonntag nun wird die Frauenkirche mit dem Segen von Bischöfen, dem Nochkanzler und dem Bundespräsidenten „geweiht“, obschon Protestanten streng genommen gar nichts weihen dürfen. Eine eigene Gemeinde hat die Frauenkirche nicht. Die evangelische Kirche versucht dennoch, den Sakralcharakter zu betonen. Sie bietet Gottesdienste an – eine Art ambulanter Mission für die „Laufkundschaft“. Annemarie Müller, Geschäftsführerin des Ökumenischen Informationszentrums in Dresden, ist das zu wenig. „Es fehlt an einer neuen Idee von Friedensarbeit, die der momentanen weltweiten Aufmerksamkeit gerecht würde.“ Eine Sammlung der Geschichten von Friedensstiftern aus aller Welt stellt sie sich vor. Jedenfalls mehr als Jugendbegegnungen im zweijährigen Rhythmus.

Auch der inzwischen aus dem Kirchendienst ausgeschiedene katholische Pfarrer Frank Richter trauert der vergebenen Chance nach, die Frauenkirche als erste große ökumenische Kirche Europas aufzubauen. Der frühere Stiftungsgeschäftsführer Claus-Dieter Heinze wünscht sich im gleichen Sinn ein „leuchtendes Beispiel“ und eine Sammlungsbewegung aller Religionen an diesem Ort. Das Nutzungskonzept von Frauenkirchen-Pfarrer Stephan Fritz dagegen betont den traditionell protestantischen Charakter des Baus.

Wohin es mit der Frauenkirche gehen wird, zeigt die Sonderöffnung der Innenstadtgeschäfte am Weihetag. Landeskirche und die Linken im Stadtrat lehnten in seltener Eintracht das Sonntags-Shopping ab. Für eine Touristenkirche ist dies hingegen nur konsequent. Das künftige „Leben in der Frauenkirche“ besteht in erster Linie aus attraktiven Konzerten. Hochzeiten und Taufen müssen Geld bringen, denn ungeklärt ist, woher die Millionen für den laufenden Unterhalt kommen sollen.

So wird sich zeigen, ob Glauben und Mahnung dabei mehr als nur ein erbauliches Dessert sein können. „Vielleicht kommt einmal eine Zeit, wo die Erinnerung an Krieg und Zerstörung nicht mehr nötig ist“, sagt Baudirektor Eberhard Burger. Dazu bedürfte es wohl des biblischen „Neuen Menschen“. Der aber scheint noch immer nicht geboren.