Afghanistan Vier Jahre Dolmetscher für die Bundeswehr, jetzt in Berlin
: Ahmad und die Deutschen

Gut bewaffnet: Taliban hören einem ihrer Führer zu, am 3. November in der Provinz Farah, Afghanistan Foto: ap

von Luisa Jacobs

Ahmads Ticket nach Deutschland war ein kleiner Brief der Taliban. Schwarze Schrift auf weißem Grund, DIN A6, Briefumschlaggröße. In geschwungenem Dari steht da: „Du hast für die Ungläubigen gearbeitet. Wenn wir dich oder deine Familie erwischen, werden wir euch töten.“ Darunter ein Stempel mit der Inschrift: Es gibt keinen Gott außer Allah.

Ohne diesen Brief wäre Ah­mad, 24 Jahre alt, geboren in Masar-e Scharif und vier Jahre lang als Dolmetscher im Dienst der Bundeswehr, jetzt nicht in Deutschland. Womöglich wäre er tot.

Ahmad sitzt auf dem Boden eines Zimmers in Berlin, 22 Quadratmeter, ein Bett, eine Matratze, kein Tisch. Der Teppich ist blau, die Tapete gelb.

Ahmad trägt Jeans und Hemd und am Hals einen Knutschfleck. Er sitzt im Schneidersitz auf dem Teppich, den Rollladen hinter ihm lässt er auch tagsüber unten.

Vor Ahmad liegen Dokumente, Zeugnisse, Bilder: Die Geburtsurkunde, das Englisch-Sprachzertifikat, ein Nachweis für zwei Semester Informatik, ein laminiertes Foto, das Ahmad mit zwei Bundeswehrsoldaten zeigt. Und eine Kopie des Briefes der Taliban.

Marwa, Ahmads Frau, sitzt neben ihm und gießt afghanischen Grüntee nach. Während Ahmad für die Deutschen auf Einsätzen übersetzte, ging sie noch zur Schule. Heute ist sie 18 Jahre alt, sie hat verträumte braune Augen und das Lachen eines jungen Mädchens trotz der 5.000 Kilometer langen Flucht, die sie hinter sich hat.

Als die Bundeswehr 2001 zum ersten Mal afghanischen Boden betrat, war Ahmad elf Jahre alt, Marwa fünf. Neun Jahre später stand Ahmad im Dienst der Bundeswehr. Noch mal vier Jahre später ist er zur Zielscheibe in Afghanistan geworden – weil er für die Bundeswehr gearbeitet hat.

Dreizehn Jahre lang war die Bundeswehr in Afghanistan stationiert. Afghanische Frauen und Männer wie Ahmad – „Ortskräfte“ heißen sie im Militärjargon – haben ihr dabei geholfen, haben übersetzt, sind Autos gefahren, haben Camps bewacht. Seit dem Abzug der Bundeswehr sind die afghanischen Orts­kräfte in besonderer Gefahr. Unklar ist, wer denen jetzt hilft, die vorher der Bundeswehr halfen. Denn die Taliban sind wieder da. Den Drohbrief, den Ahmad in der Hand hält, erhielt seine Familie 2012 nach der Entführung seines Bruders: Vier Wochen wurde dieser gefangen gehalten, weil er für ein afghanisches Kommunikationsunternehmen arbeitete und ein ausländisches Auto fuhr – einen Toyota SUV Pick-up. 10.000 Euro hat Ahmads Familie bezahlt, damit sein Bruder wieder frei kam. Den Pick-up haben die Taliban in Brand gesteckt. „Das nächste Mal brennt nicht nur euer Auto“, schrieben sie.

Für Ahmad genug Warnung. Er beantragt ein Visum für Deutschland. Wochenlang wartet er. Dass sich die Deutschen Zeit ließen, irritierte ihn. Hatten sie ihm nicht versprochen, dass er sich um seine Sicherheit keine Sorgen machen müsse? „Für den Fall, dass Sie bedroht sind – latent oder offen – bieten wir Ihnen auch Schutz in Deutschland. Darauf können Sie sich verlassen“, sagte der Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in einem Video seines Ministeriums.

„Viele Kollegen sind noch in Afghanistan, sie können nichts beweisen“, sagt Ahmad.

Etwa 400 Afghanen haben eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland erhalten, fünf­mal so viele haben sie beantragt. Ahmad war einer derjenigen, der sie bekam. Im Mai 2014 in einer deutschen Vertretung in Masar-e Scharif drückte ihnen ein Angestellter einen Zettel mit ihrer neuen Adresse in die Hand: eine Allee mit schönem Namen im Süden Berlins.

Die deutschen Soldaten, neben denen er Nacht für Nacht in Feldbetten im Norden Afghanistans lag, hatten ihm erzählt von den Reihenhäusern mit Vorgärten, dem Marmorkuchen, den Autos, die man, so schnell man mochte, über Autobahnen jagen konnte. Nicht nur weiße Toyotas gebe es. „Deutschland klingt so wundervoll“, hat Ahmad damals gedacht.

Fünf Tage vor Abflug heirateten Ahmad und Marwa, sonst hätte sie zurückbleiben müssen. Die beiden kannten sich schon als Kinder. Marwas Vater ist Ah­mads Cousin. „Eigentlich ist Deutschland ein bisschen wie unser Honeymoon“, sagt Ahmad in einer Mischung aus Deutsch und Englisch. Die Flitterwochen begannen im Juni 2014 und dauern bis jetzt, und alles ist ganz anders als versprochen.

Am Flughafen Schönefeld wartete ein Sozialarbeiter, sagte „Welcome to Germany“ und brachte sie ins Flüchtlingsheim.

Flüchtlingsheim? Er? Ahmad, 24 Jahre alt, der vier Jahre lang jeden Tag sein Leben für die deutsche Bundeswehr riskierte?

Wenn Ahmad und Marwa von ihrem ersten Tag in Deutschland erzählen, lächeln sie höflich, wie sie es immer tun, wenn sie mit Fremden sprechen. Sie haben sich ein sicheres Leben in Afghanistan gewünscht, das wurde ihnen genommen. Jetzt wollen sie es hier versuchen.

Jeden Morgen sitzen Ahmad und Marwa deshalb in einen Klassenzimmer in Mitte und lernen Deutsch, Level B2, zusammen mit Kanadiern, Italienern und Thais. Im Unterricht quälen sie, die schon fließend Dari, Paschtunisch und Englisch sprechen, sich mit Hilfsverben und Vorvergangenheit; Freude beim Deutschlernen finden Ahmad und Marwa, wenn sie Wörter auf der Straße aufschnappen: „Scheinschwangerschaft“ zum Beispiel, oder „Waschmaschine“ neulich bei einem Ausflug ins Regierungsviertel.

Am Nachmittag, wenn der Computerraum im Heim offen ist, suchen sie nach einer Wohnung, und nachts versuchen sie zu schlafen. In der Zimmerdecke sind viele Kerben. Jede Nacht, wenn über ihnen wieder die Kinder toben, schlägt Ahmad mit einem langen Stock an die Decke. „Die Araber“, sagt Ahmad, „sind immer so laut.“

Über Ahmad und Marwa wohnt eine syrische Familie, neben ihnen Albaner und Tsche­tsche­nen. „Zwischen den Arabern und den Tschetschenen gibt es ständig Stress“, erzählt er. Wirklich gesprochen hat er mit ihnen noch nicht. Jede Gruppe bleibt unter sich. Im Heim leben 60 Afghanen, alle „Ortskräfte“. Ahmad macht mit den Männern Ausflüge zum Brandenburger Tor oder an die Berliner Seen. Marwa trifft sich mit den Frauen zum Kartenspielen. Deutsche kennen sie bis auf Ju­lia­ne Meyer-Clason kaum. Die 50-Jährige ist freiwillige Patin beim Patenschaftsnetzwerk der Bundeswehr.

Wenn Ahmad und Marwa von ihrem ersten Tag in Deutschland erzählen, lassen sie sich ihre Enttäuschung nicht anmerken

An einem der heißen Sommertage sitzt Meyer-Clason mit den beiden auf einer Bank im Görlitzer Park in Kreuzberg. Sie will ihnen typische Berliner Orte zeigen, wo sie ohne sie nicht hingehen würden. Meistens sind das Orte, wo sich Ahmad und Marwa dann unwohl fühlen wie in diesem Park oder auf dem Badeschiff, wo sich die Berliner sonntags zu Technobeats im Wasser treiben lassen.

Marwa lehnt in Ahmads Arm. Ab und zu rutscht das Kopftuch vom Haar. Gegenüber auf den Bänken sitzen junge Männer, vermutlich aus Zentralafrika, und rufen den Passanten hinter her. „Hallo, hallo. Alles gut?“

Ahmad und Marwa strengen sich an, nicht rüberzusehen. Auf einmal stehen zwei der Männer auf und schlagen mit Fäusten aufeinander ein. Marwa vergräbt sich noch ein wenig mehr in Ahmads Schulter.

„Weißt du“, sagt Ahmad. „Es gibt die Flüchtlinge, die haben deutschen Soldaten das Leben gerettet und dann andere die sitzen hier und verkaufen Drogen.“ Ahmad spricht jetzt leise auf Englisch, mehr zu sich selbst.

Einmal pro Woche kommt Meyer-Clason ins Flüchtlingsheim, um Ahmad und Marwa zu besuchen. Sie hilft beim Ausfüllen des Schufa-Antrags, kocht Abendessen mit ihnen und beantwortet Fragen, die Ahmad und Marwa nur einer Deutschen stellen können: Mit welchen Jobs können wir in Deutschland am schnellsten Geld verdienen? Warum tragen die Nonnen in deutschen Klöstern auch Kopftücher, wie die muslimischen Frauen? Und warum ist es so schwer, in Berlin eine Wohnung zu finden?

„Eine eigene Wohnung wäre der erste Schritt raus aus ihrem Leben im afghanischen Exil“, sagt Meyer-Clason.

Manchmal ruft sie für Ahmad und Marwa bei Vermietern an, nennt den Doktortitel ihres Mannes, erwähnt das Patenschaftsnetzwerk der Bundeswehr. Doch am Ende ihres Satz, hören die Vermieter nur: afghanisches Paar – und entscheiden sich für jemanden anderen. „Versprechen, dass es sofort klappt, kann ich euch eben nicht“, sagt Meyer-Clason. Ahmad nickt, höflich lächelnd. „Sechs Monate haben wir noch Zeit.“ Seit drei Monaten ist Marwa schwanger. „Unser Kind soll ein echter Berliner sein“, sagt er.