Die Wahrheit: Ein kleiner, großer Schritt

Aussteigern, die im Nahverkehr nicht klarkommen, hilft jetzt der Verein RAUS e. V. Ein Modellprojekt, das Schule machen sollte.

Menschen, dichtgedrängt, in einer Bahn, die Tür steht offen.

Aussteigen, einsteigen oder was jetzt? Für viele Fahrgäste sind das höchst schwierige Fragen. Foto: ap

Der Mann ist um die vierzig – ein erwachsener Mensch, der mitten im Leben steht. Oder stehen könnte. Doch er tritt von einem Fuß auf den anderen. Unschlüssig. Verwirrt. Hilflos.

„Das ist typisch“, sagt Peter Proß. Die Aufnahmen, die er uns auf seinem Notebook zeigt, sind mit versteckter Kamera gemacht. In einer x-beliebigen U-Bahn in Berlin. „Wenn jetzt nicht einer unserer Mitarbeiter eingreift, fährt der Mann wahrscheinlich bis zur Endstation.“ Und was dann passiert, ist klar: ab in den Tunnel. Licht aus. Finsternis.

Proß, ein hagerer, ernst wirkender Typ, ist angetreten, diesen Menschen zu helfen. „Es gibt ganz viele davon“, sagt er und zeigt auf den Schirm, „Menschen, die gern aussteigen würden, es aber nicht schaffen.“ Deshalb hat Proß vor zwei Jahren mit Gleichgesinnten den Verein RAUS e. V. gegründet. Ziel ist es, Aussteigern zu helfen.

„Natürlich muss man klein anfangen. Jeder Ausstieg beginnt mit dem ersten Schritt. Aber viele sind schon mit der Technik überfordert“, erklärt der gelernte Tischler und drückt auf „Play“. Während der hilflose Mann im Bild noch immer vor der geschlossenen U-Bahn-Tür steht, schiebt sich von links eine Hand ins Bild, drückt auf einen leuchtenden Knopf. Die Tür geht auf.

Proß klickt auf „Pause“, erklärt bekümmert: „Die runden Druckschalter werden oft gedreht. In anderen Zügen sind die Leute überrascht, dass die Türklinken hochkant angebracht sind. Ich habe sogar mal gesehen, dass jemand an die Tür geklopft hat.“ Hinzu kommt natürlich, dass viele Menschen erst im Erwachsenenalter mit Verkehrsmitteln in Berührung kommen, vor allem Zugezogene. Es ist ein Unterschied, ob man im „Tatort“ sieht, wie jemand aus der U-Bahn steigt und dann erschossen wird, oder ob man selbst im Zug steht und aussteigen will.

Ein Schubsen und Drücken

Wieder drückt Proß auf „Play“. Der Mann im Video steht vor der nun offenen Tür, da wird er auch schon von der hereindrängenden Menschenmenge zurück in den Wagen geschubst und ist nicht mehr zu sehen. „Das ist natürlich tragisch“, sagt Proß. „Der Kollege hat den Mann noch gesucht – aber vergebens. Doch es gibt ja jetzt uns. Wir können diesen Menschen helfen.“ Proß zieht seine Jeansjacke an, dann machen wir uns auf den Weg, auf Streife. Zwei bis drei Stunden fährt der gebürtige Schwabe täglich U-Bahn, immer auf der Suche nach Aussteigern. Kollegen von ihm arbeiten teils Vollzeit, „aber die bekommen Hartz IV, die würden sonst sowieso nur zu Hause sitzen.“

Warum gibt es Aussteiger überhaupt? Wie kommt jemand in solch eine aussichtslose Lage? Den Begriff „Aussteiger“ findet Proß unpassend. „Es sind eher Aussteigewillige – sie wollen ja, sie können bloß nicht.“ Oft haben sie keinen Mobilitätshintergrund, manchmal ein Lokalisationshandycap.

„Die meisten Betroffenen, nein, alle wollen ja aussteigen«, konstatiert er. „Sie wissen nur nicht, wie. Viele werden von Freunden in die Situation gebracht einzusteigen. Eben waren sie noch in einem Club, jetzt stehen sie in der U-Bahn. Gruppendruck entsteht. Wer aussteigt, ist buchstäblich – draußen. Und zuletzt ist man, allein unterwegs, total hilflos. Kommt dann keine Hilfe, kommt die Abwärtsspirale. Menschen, die nicht aussteigen, fühlen sich gesellschaftlich isoliert, sehen täglich, dass andere es schaffen. Sie pöbeln herum, es kommt zu Gewalt gegen andere Fahrgäste. Schubsen, rempeln, zurückrempeln: ein Teufelskreis.“

Katatonische Starre

Inzwischen stehen wir auf einem U-Bahnhof, gerade rollt ein Zug ein. Wir haben Glück. Hinter einer Tür ist ein hilfloser Fahrgast. Proß drückt auf den großen Knopf, wie von Zauberhand öffnet sich die Tür. Der Mann starrt uns an. Hinter ihm stehen Menschen, die aussteigen wollen, doch der Mann steht ihnen im Weg. Ein Fall für Peter Proß. Mit einer Hand greift er den Mann am Kragen, die andere Hand packt den linken Oberarm. Dann geht es blitzschnell. Zwei Sekunden später hat Proß den Mann rausgezogen und sicher auf dem Bahnsteig abgelegt. Sobald der Zug abgefahren ist, wird er sich aus seiner katatonischen Starre erheben und gen Ausgang wanken.

Die anderen Fahrgäste steigen nun auch aus, manch einer blickt dankbar auf Proß. Wir steigen ein. Vor kurzem wurde RAUS e. V. vorgeworfen, dass Kopfprämien gezahlt würden für jeden Fahrgast, den er aus der Bahn holt. „Unsinn.“ Proß ist verärgert, „das Gerücht haben die Betreiber erfunden. Es hatten sich Fahrgäste beschwert, dass sie einfach so aus der U-Bahn gezogen worden sind. Einzelfälle! Und nicht jeder, der eigentlich aussteigen will, weiß das vorher auch. Das ist ja ein Teil des Problems.“

Für ihn ist der Vorwurf der Betreiber unverständlich, denn eigentlich stünden sie ja auf derselben Seite, der des Fahrgastes nämlich. Wie seine Pläne für RAUS e. V. seien, fragen wir Proß. „Wir wollen unseren Service weiter ausbauen, mehr Streife gehen, möglichst in jedem Zug einen Aussteigehelfer. Oder wenigstens in jedem Bahnhof. Und natürlich“, sagt er und schluckt, „möchte ich irgendwann in einer Welt leben, in der alle Menschen von sich aus aussteigen – ohne fremde Hilfe.“

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