Die Flüchtlinge von Calais: Der Jungle wächst

Aus den Flüchtlingslagern bei Calais ist längst ein eigenständiges Dorf geworden. Doch das könnte sich ändern. Ein Containercamp soll entstehen.

Zelte spiegeln sich in einer sehr großen Pfütze

Die Zelte von Calais sollen Containern weichen. Foto: ap

CALAIS taz | Blaulicht flackert über die Ebene. Es kommt von allen Seiten: von vor der Brücke und von dahinter, von der nahen Autobahn und aus Richtung der unten liegenden Zuggleise. Licht fällt in fahlem Gelb auf die Schienen, eine Streife fährt dort entlang, auf der Brücke leuchten drei Gendarmen mit Taschenlampen die Umgebung ab. Der Hubschrauber kreist jetzt direkt darüber und wirft seinen Suchscheinwerfer durch die dünne Wolkenschicht. Der Schienenabschnitt zwischen dem Bahnhof Calais Frethun und dem Eingang zum Eurostar-Tunnel ist ein Hochsicherheitsgebiet.

Hubschrauber sind verstärkt im Einsatz, seit Bernard Cazeneuve, Frankreichs Innenminister, Ende Oktober Calais besuchte. Die Zahl der Polizisten, die hier im Einsatz sind, hat sich fast verdoppelt: Mehr als 1.100 sind es nun. Frankreich will das Nadelöhr Calais endlich schließen. Im Sommer probierten hier, nahe dem Dorf Coquelles, wo der Zug in die Erde eintaucht, die Flüchtlinge in Scharen und Gruppen, die meisten aus Afghanistan, Syrien, Irak, Eritrea und Sudan, den Tunnel zu stürmen. Noch immer versuchen sie Nacht für Nacht sich auf einem Güterzug zu verstecken. Dreizehn Menschen haben dabei seit diesem Sommer ihr Leben gelassen.

Der Jungle, wie das Flüchtlingscamp heißt, beginnt dort, wo das Industriegebiet in den Dünen, gleich hinter der gesicherten Autobahnbrücke, endet. Generatoren dröhnen, Zelte erheben sich in allen Formen, meist mit blauer Plane bedeckt, Ströme von Menschen passieren die sandigen Wege.

Rund 6.000 Flüchtlinge leben im Jungle, mehr als jemals zuvor – eine Folge der jüngsten Flüchtlingswelle und der immer schwerer zu überwindenden Grenze. Zwischen den Zelten macht sich darum Nachdenklichkeit breit. „Wir geben nicht auf”, versichert Mohamad Balla, ein 35-jähriger Sudanese. „Aber im Moment ist es unmöglich zu schaffen. Also warten wir ab, was der nächste Schritt der Regierung sein wird.”

Mukhtar gibt auf

Neben Mohammad Balla steht ein jüngerer Mann, Mukhtar, auch er stammt aus dem Sudan. Neulich versuchten sie gemeinsam in den Tunnel zu gelangen. Sie wurden entdeckt, nicht zum ersten Mal. Mohammad entkam, Mukhtar wurde geschnappt und in ein Gefängnis nach Nîmes gebracht, tausend Kilometer von Calais entfernt. Nach ein paar Tagen wurde er freigelassen, mit dem Zug kam er zurück an den Kanal. Inzwischen hat er in Frankreich Asyl beantragt.

„Mukhtar hat aufgegeben”, sagt sein Freund Mohammad. „So wie viele von uns. Sie denken, es ist zu gefährlich, oft haben sie sich schon etwas gebrochen.” Auch Mohammad verletzte sich schwer, als er einmal beim Wegrennen mit dem Knie gegen einen Fels stieß und sich überschlug. Als die Polizisten bei ihm waren, traten sie ihn zusammen.

Mohammad Balla, Jungle-Bewohner

„Im Moment ist es unmöglich zu schaffen. Wir warten ab, was der nächste Schritt der Regierung sein wird“

Mukhtar gehört zu den mehreren hundert Flüchtlingen, die in der letzten Oktoberwoche möglichst weit weg von Calais für ein paar Tage in Haft genommen wurden. Eine neue Strategie der französischen Regierung, um sie zu demotivieren. Sie unterstreicht die Worte des Innenministers, niemand solle glauben, dauerhaft im Jungle leben zu können.

Tatsächlich festigen sich die Strukturen, der Jungle wirkt immer mehr wie ein Dorf mit einer eigenen Infrastruktur. Mohammad und Mukhtar leben im afrikanischen Teil des Lagers, wo niedrige Zelte zwischen Büschen, Pfützen und Abfall Elend signalisieren. Schon ein paar Meter weiter tauchen die ersten hölzernen Verschläge auf.

Neues Restaurants

An der Abzweigung, von wo aus sich die beiden Hauptwege wie ein V über das hügelige Gelände ziehen, steht ein Gerüst aus hellen Brettern. „Das Ergebnis der letzten drei Tage“, sagt Ali Ahmad, Hammer in der linken Hand, Zigarette in der rechten. 28 Jahre alt ist der Afghane, und wenn das Gebäude in zwei Tagen fertig ist, will er hier mit ein paar Bekannten ein Restaurant aufmachen. Fleischbällchen, Reis, Bohnen, knuspriges Pratha-Brot, Frühstück, das soll es geben, eine Mahlzeit wird zwei oder drei Euro kosten. Holz und Baumaterial liefern die Hilfsorganisationen an. Den Ort für das Restaurant haben sich die Betreiber selbst ausgesucht. „Hier war noch ein freier Platz”, erklärt Ali Ahmad und macht sich wieder an die Arbeit.

Auch der Jungle hat wie die Welt draußen seine soziale Ordnung und ethnische Gliederung. Die Migranten vom Horn von Afrika bilden die ärmste Gruppe. Die Syrer haben deutlich mehr Geld, sind aber im Alltag weniger sichtbar. Sie kommen erst seit anderthalb Jahren hierher – ganz anders als die Afghanen oder Paschtunen, die seit Langem in großen Gruppen am Kanal lagern. Sie sind so etwas wie die Unternehmerkaste hier und betreiben in der Regel die Restaurants. Und sie managen die rund 20 Läden im Jungle: Bretterbuden mit Keksen und Saft, Wasser und Konserven. Einige verkaufen selbst frisches Obst und Gemüse in Kisten, das sie mit Fahrrädern von Aldi, Lidl oder aus dem Supermarkt Carrefour herankarren.

Gerade weil die Grenze immer hermetischer wird, nimmt das Leben im Jungle immer mehr Gestalt an. Doch es gibt Anzeichen für eine nahende Veränderung: lange, rote Pfähle, die scheinbar willkürlich zwischen Zelten und Hütten aufragen. Sie markieren die Umrisse eines Containercamps, das hier bald gebaut werden soll, erklärt Anna McAughley, eine Studentin aus Manchester, die bei der Hilfsorganisation Salam ein Praktikum macht. Sie kommt gerade aus einer Notunterkunft für Frauen und Kinder am Rand des Jungle, wo Freiwillige täglich warmes Essen ausgeben.

Das neue Camp, erklärt McAughley, soll 1.500 Plätze haben. 6.000 Flüchtlinge leben derzeit im Jungle. Was wird dann aus den übrigen Migranten, was passiert mit ihren Unterkünften? „Niemand weiß“, sagt McAughley, „was die französische Regierung im Moment plant.“ Die jetzigen Bewohner wundern sich vor allem über die geringen Kapazitäten des Camps und bezweifeln, dass sich ihre Situation verbessern wird. Schon einmal, 2009, hat die französische Polizei den damaligen Jungle mit Bulldozern dem Erdboden gleich gemacht.

Briten kommen helfen

Sofinee Harun wusste damals noch nichts von Calais. Die kleine Frau von Mitte 30 stammt aus Durham im Norden Englands. Im Sommer hörte sie in den Nachrichten von der Situation am Kanal. „Ich sagte zu meinem Mann, das ist der nächste Ort, wo wir helfen können”, erzählt sie. Also bauten sie aus Holz und Planen eine Hütte, auf der Kitchen in Calais steht, richteten eine Küche ein und geben nun täglich 400, manchmal 500 Mahlzeiten aus. Junge Flüchtlinge helfen ihnen beim Kochen.

Die Schlange vor ihrer Bude zeigt, wie groß die Nachfrage ist. In der Notunterkunft für Frauen und Kinder sind Männer zwar zum Austeilen des Essens willkommen, doch gibt es bei weitem nicht genug für alle. Muss sich Sofinee Harun demnächst einen neuen Platz suchen? Sie zuckt die Achseln. Abgesehen von dem Aufwand sieht sie einen möglichen Vorteil: „Wenn wir eine größere Hütte hätten, könnten wir natürlich für mehr Menschen kochen.”

Wenige Meter von der Kitchen in Calais bauen Freiwillige am Sonntag ein neues Zelt auf. Briten wie Harun; überhaupt sieht man alle paar Minuten ein Auto oder einen Transporter mit GB-Kennzeichen, aus denen Lebensmittel, Säcke voller Kleidung oder Schuhe geladen werden. Der Sonntagsausflug in den Jungle ist in der britischen Unterstützerszene beliebt geworden. Ihre Hilfe wird auch in Zukunft gefragt sein. Bald kommt die Nachricht, dass am Abend zuvor in der Stadt mindestens 20 Flüchtlinge verhaftet worden sind. Im Halloween-Trubel von Calais war das zunächst nicht aufgefallen.

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