Ein Stück Normalität: In der Übergangsklasse der Schule am Gotzinger Platz sind auch Kinder mit traumatischen Fluchterlebnissen Foto: Dominik Baur

Ü wie Übergang, nicht Überraschung

Integration Keine Lehrbücher, dafür viel Eifer bei den neuen Schülern. An einer Münchner Mittelschule erfahren Flüchtlingskinder in Übergangsklassen Normalität. Die hohe Flüchtlingszahl vom Sommer macht sich dort aber noch nicht bemerkbar

Aus München Dominik Baur

Was den Satz so besonders macht, ist seine Bedingungslosigkeit: „Bringt uns die Kinder, wir machen was draus.“ Kein Wenn, kein Aber, einfach nur: Wir machen was draus. Punkt. Der Satz stammt von Franz Josef Bruckbauer, Rektor der Mittelschule am Gotzinger Platz in München. Und die Kinder, die er meint, sind die Schüler der sogenannten Ü-Klassen an seiner Schule. Ü wie Übergang, nicht wie Überraschung. So heißen in Bayern die Klassen, die Migrantenkinder für den normalen Schulbetrieb fit machen sollen.

Bruckbauer sitzt in seinem Büro im ersten Stock der Schule im Stadtteil Sendling und erklärt, was es mit den Übergangsklassen auf sich hat. Und warum sie der Schlüssel dafür sind, dass die, die in Deutschland ankommen, tatsächlich hier ankommen.

Die Kinder, von denen Bruckbauer spricht, verbindet genau eines: Bei ihrer Ankunft in München sprachen sie kein oder kaum Deutsch. Deshalb sitzen sie miteinander im Unterricht. Viel mehr teilen sie nicht: Die einen waren zuvor noch nie in einer Schule, die anderen haben in der Heimat schon das Gymnasium besucht. Die einen haben eine traumatische Flucht hinter sich, die anderen sind bequem mit einem EU-Pass eingereist. Die einen sind mit ihrer Familie gekommen, die anderen stehen völlig allein da.

Zum Schuljahresbeginn im September gab es an bayerischen Schulen 470 Übergangsklassen. Doch die Zahl dürfte bald steigen: In Bayern darf ein Flüchtlingskind erst drei Monate nach Ankunft in Deutschland zur Schule gehen. Die große Anzahl Geflüchteter, die im Sommer nach Deutschland gekommen ist, wird sich deshalb erst in den kommenden Wochen an den Schulen bemerkbar machen. Bayern nimmt 15 Prozent der Flüchtlinge auf. Fast jeder Zweite ist unter 18. Sind die Schulen darauf vorbereitet?

Besuch in der Ü5, einer von zwei Übergangsklassen an der Sendlinger Mittelschule: Es geht gerade um Substantive. „Welche Nomen haben wir letzte Woche neu gelernt“, fragt Manuela Reinhard, die Klassenlehrerin. „Herbst, Winter, Sommer, Frühling“, schallt es zurück, „Oktober, September, Blätter.“ Und jetzt die Adjektive? „Bunt, nöblig…“ Nöblig? Das Wort stimmt nicht ganz, beschreibt aber perfekt, was man sieht, wenn man aus dem Fenster blickt. Und weiter? „Regen.“ Ist Regen ein Adjektiv? „Nein“, sagt Marzuk, „weil ,Regen’ einen Artikel hat.“

Endlich Normalität

Der Unterricht findet in einem ziemlich normalem bayerischen Klassenzimmer statt: An der Wand ein Klavier, auf einem Tisch ein Computer, ein Kreuz über der Tür. Die 16 Schüler sitzen im Kreis. Unter ihnen der elfjährige Matteo, ein Kroate aus Bosnien, der seine Heimat vermisst. Julian aus Rumänien und Atanas aus Bulgarien ergeht es genauso. Marzuk hingegen gefällt es richtig gut in Deutschland, die Stadt ist toll, die Schule sowieso. Der 13-Jährige stammt aus Afghanistan. Vor gut zwei Jahren kam er mit seinem Vater und seinem Bruder nach Deutschland. Damals war er noch Analphabet. Jetzt gehört er zu den Besten in der Klasse, erzählt seine Lehrerin.

In Bayern werden Flüchtlingskinder fast ausschließlich an Grund- und Mittelschulen auf den Regelunterricht vorbereitet. In den Übergangsklassen bleiben die Schüler bis zu zwei Jahre. 470 waren es zum Schulstart im September. Im kommenden Jahr sollen es rund 1.400 sein. Sprachschwache Schüler, die bereits am regulären Unterricht teilnehmen, werden in Deutsch­förderklassen gesondert betreut.

Flüchtlingskinder werden erst nach 3 Monaten Aufenthalt in Bayern eingeschult. Nach dem Königssteiner Schlüssel muss Bayern 15 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen. Derzeit sind es rund doppelt so viele.

Das Schulhaus am Gotzinger Platz hat eine lange Geschichte, 2007 feierte es sein 100-jähriges Bestehen. Sportmoderator Gerd Rubenbauer ging hier zur Schule. Gleich um die Ecke ist die Großmarkthalle, die Bevölkerung im Viertel ist international. An der Schule liegt der Migrantenanteil bei 90 Prozent.

Als Bruckbauer vor 17 Jahren Schulleiter wurde, gab es bereits Übergangsklassen. Mitte der Achtziger wurden sie eingeführt, als sich abzeichnete, dass die Kinder der Gastarbeiter nicht alle in die Heimat der Eltern zurückkehrten, wie man lange glaubte. In den Siebzigern wurden sie noch in zweisprachige Klassen gesteckt. So waren die Spanier unter sich, die Italiener und auch die „Jugoslawen“, die ganz in Titos Sinne in Serbokroatisch unterrichtet wurden.

Ein System, das heute undenkbar ist. Die Schülerschaft der Klassen ist nationenmäßig bunt zusammengewürfelt, unterrichtet wird dafür immer nur in einer Sprache – Deutsch. Zehn Stunden Deutsch als Zweitsprache stehen jede Woche im Stundenplan. Daneben Mathe, Sport, Kunst.

„Jetzt hopp, hopp, zack, zack, jalla, jalla! Alle Finger will ich sehen.“ Maria Betz, Klassenleiterin der Ü8, der Übergangsklasse für Jugendliche bis 15 Jahre, steht am Overheadprojektor und übt mit ihren Schülern Vokabeln. Welches Möbelstück gehört in welches Zimmer? Die Schüler müssen auf der Folie die Wörter dem entsprechenden Raum zuordnen. Eine leichte Übung. Etwas schwieriger ist da schon das Lesen. Dennoch wollen viele Schüler unbedingt drangenommen werden und ihren Aufsatz zum Thema Familie vorlesen, die Hausaufgabe vom letzten Mal. Mustafer schließlich macht den Anfang. „Ich heiße Mustafer und komme aus dem Irak …“ Der 15-Jährige liest sehr langsam. Und dann zählt er sämtliche Familienmitglieder auf. Am Ende klatscht die ganze Klasse. „Das war sehr gut“, sagt Betz. „Dafür hast du lange gebraucht, oder?“ Mustafer nickt.

Später, nach der Deutschstunde, erzählt Mustafer, warum er nach Deutschland gekommen ist. Der Junge ist Kurde, seine Familie kommt aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Mossul. Im Februar 2013 stirbt Mustafers Vater, ein Polizist, bei einem Bombenanschlag. Danach bekommt die Familie anonyme Drohungen. Mit seinem älteren Bruder macht sich Mustafer auf den Weg nach Deutschland. Zwei Monate sind die beiden Jugendlichen unterwegs. Sie schlafen im Freien, nachts schleichen sie über grüne Grenzen, Mustafer hat Angst. Jetzt ist er seit zwei Jahren in München, untergekommen sind er und sein Bruder bei einem Onkel, der schon hier lebte. In der Klasse hat Mustafer inzwischen – fernab von allem Vertrauten – wieder ein bisschen Normalität für sich gefunden.

Und noch etwas haben die Schüler der Übergangsklassen gemein: ihren Lerneifer. Null Bock gibt’s nicht. Im Vergleich zu den Regelklassen sei das ein Unterschied wie Tag und Nacht, sagen die beiden Lehrerinnen Reinhard, 32, und Betz, 30. „Man kriegt unglaublich viel zurück von den Jugendlichen“, sagt Betz. Und ihre Kollegin ergänzt: „Ich bin sehr glücklich, was ich hier erreichen kann.“ Zurück in eine „normale“ Klasse, das könnten sich weder Betz noch Reinhard vorstellen – trotz der täglichen Improvisation. Es gibt keine Lehrbücher, die Lehrerinnen müssen sich jeden Tag etwas Neues einfallen lassen. „Die größte Herausforderung“, sagt Betz, „ist der tägliche Versuch, allen Schülern gerecht zu werden.“

Man kriegt unglaublich viel zurück von den Jugendlichen

Lehrerin Maria Betz

Und natürlich kommen alle Schüler mit ihrer ganz persönlichen, mitunter traumatischen Geschichte hier an. Aber die Lehrerinnen stellen bewusst nur wenige Fragen. Die Flüchtlinge sollen nicht das Gefühl bekommen, dass sie schon wieder ihre ganze Geschichte erzählen müssen, sondern sie sollen einfach mal nur da sein dürfen. „Uns interessiert nicht, wo ein Schüler herkommt, sondern was er kann.“ Nur wenn sich ein Kind auffällig verhält, schalten die Lehrerinnen geschulte Traumataspezialisten ein.

Auch Rektor Bruckbauer ist vom Konzept der Ü-Klassen überzeugt. Es gebe kaum einen Schüler, der nicht innerhalb der vorgesehenen zwei Jahre in eine normale Klasse übertreten kann, manche schafften es deutlich schneller. Und das, so Bruckbauer, sei doch das Wichtigste. Bei der Integration der Kinder seien Übergangsklassen der Schlüssel. So lernten die Kinder schnell, könnten sich schneller anpassen und zögen im besten Fall auch ihre Familien mit.

Die große Herausforderung freilich kommt erst noch. Die hohen Flüchtlingszahlen vom Sommer werden sich erst in den kommenden Wochen an den Schulen bemerkbar machen. Die Zahl der Übergangsklassen soll deshalb im nächsten Schuljahr verdreifacht werden. Kultusminister Ludwig Spaenle hat bereits 1.700 neue Lehrerstellen zugesagt. Das Problem: Die Schulen brauchen Lehrer, nicht nur Stellen. Der Markt für Mittelschullehrer ist derzeit jedoch leer gefegt, klagen viele Schulen. Bruckbauer ist gelassen: „Wir sind bereit.“

Drei Stockwerke über ihm feilt derweil Mustafer weiter an seinen Deutschkenntnissen. Denn er hat ein Ziel: Er will später einmal die deutsche Staatsangehörigkeit. Und Polizist werden. Wie sein Vater.