„Neues Sehen“ in der Fotografie: Ungemein bestechend, dieses Leben

Jung, emanzipiert und bestens ausgebildet: Germaine Krull prägte die Foto-Moderne, im Martin-Gropius-Bau ist ihr eine Werkschau gewidmet.

Blick in die Germaine-Krull-Ausstellung

„Neues Sehen“, zu üben mit den Fotos von Germaine Krull im Gropius-Bau. Foto: dpa

Das linke Auge schaut geneigt. Es schaut schräg und dezentral. Es sieht auf Stahlkräne, Metallräder oder auf das Eisengerippe des Eiffelturms. Im Blick hat es das stahlharte Gehäuse der 1920er Jahre: Eisenbahnbrücken oder Schiffsaufbauten. Das linke Auge schaut durch die runde Silberbrille des deutschen Kulturphilosophen Walter Benjamin: „Der Geist“, so hatte dieser 1931 in seinem Büchlein „Kleine Geschichte der Fotografie“ geschrieben, überwinde mit derlei Blicken die Mechanik. Und wer sich unter solcher Überwindung nichts vorzustellen wusste, für den hatte Benjamin in seinem Aufsatz drei Exempel bei der Hand: „Ein Sander, eine Germaine Krull, ein Bloßfeld.“ Drei Avantgardefotografen, die für den fotoaffinen Philosophen Aushängeschilder einer neuen, „schöpferischen Fotografie“ sein sollten; einer Optik, die das Banale zum Schönen transformieren wollte.

Inwieweit Benjamin mit dieser Einschätzung recht gehabt hat, das lässt sich zurzeit im Martin-Gropius-Bau begutachten. Gut 130 Vintages der 1897 im ostpreußischen Wilda geborenen Fotografin Germaine Krull sind dort zu sehen. Werbefotografien von Automobilen, Aufnahmen entblößter Körper, Aufsichten auf Stahlgerippe.

Viele dieser Bilder wirken wie Mustertafeln des „Neuen Sehens“ – einer am Konstruktivismus ausgerichteten Fotografie, die in den späten 20er Jahren „State of the Art“ gewesen ist. Und neben all diesen modernen Perspektiven hängt ein recht klassisches Porträt aus dem Jahr 1926. Darauf ein gebeugtes Haupt hinter runder Silberbrille: Der Kulturphilosoph Walter Benjamin. Eine Hand wusch in der Kunst eben immer schon die andere.

Doch Germaine Krull ist mehr als ein Network-Phänomen des Modernismus. Dass ihr Name nach ihrer späten Wiederentdeckung in den 1970er Jahren noch immer im Kanon der frühen Fotokunst gelistet ist, das ist vor allem ihrem 1928 erschienenem Mappenwerk „Métal“ sowie ihrer Teilnahme an der 1929 gezeigten Gruppenausstellung „Film und Foto“ zu verdanken. Während der 64 Bildtafeln umfassende Bildband heute zu einem Klassiker der Fotobuchliteratur zählt, ist die „FiFo-Teilnahme“ noch immer wie der Mitgliedsausweis im kleinen Club der Avantgarden. Andreas Feininger, Umbo, Lázló Moholy-Nagy – wer bei dieser großen Werkbund-Schau in den Städtischen Ausstellungshallen von Stuttgart vertreten war, der ist heute Fotografiegeschichte.

Moskau, Berlin, Paris

Germaine Krull ist dort gewesen. Und das ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Fotografinnenleben: Sie war immer dort, wo die Geschichte spielte: Ausgebildet an der Münchner Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie, verbrachte sie den Ersten Weltkrieg in der Schwabinger Kultur- und Untergrundszene. Sie machte erste Fotos von dem späteren bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und engagierte sich bei den Spartakisten.

Über Moskau, Berlin und Amsterdam führte ihr Weg sie nach Paris. 1926 eröffnete sie in der „Hauptstadt der Fotografie“ ein Studio für Modebilder. Viele waren um dieselbe Zeit in die Stadt gekommen: Berenice Abbott und Lee Miller, Lisette Model und Gisèle Freund, Ilse Bing und Marianne Breslauer. Frauen wie Krull. Jung, emanzipiert und bestens ausgebildet. Meistens kamen sie aus dem gehobenen, oft jüdischen Bürgertum.

Um „Fan-Verhalten und Kunst“ geht es in der Schau „Passion“ im Künstlerhaus Bethanien, Kottbusser Straße 10. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, zu sehen ist sie bis 9. August, Di.–So. 14–19 Uhr.

Ein begleitendes „Passion“-Filmprogramm gibt es im fsk-Kino und im Kino der Brotfabrik. Dort hat das Programm mit Musikfilmen mit Ornette Coleman, Grateful Dead, Bob Dylan und anderen bereits gestartet. Im fsk-Kino gibt es vom 16. bis 19. Juli unter anderem Filme mit DDR-Bezug (zu Renft und Ornament & Verbrechen) und die Beatles-Hommagen von Klaus Beyer, Berlins Henri Rousseau der Fab-Four-Deutung, zu sehen.

„Madame Man Ray“ hat die Autorin Unda Hörner sie mit dem Titel eines Buches über diese Fotografinnen der Avantgarde in Paris genannt. Denn viele von ihnen hatten ihre Karriere im Studio des Pioniers der experimentellen Fotografie begonnen. Auch Krull war mit Man Ray befreundet: „Germaine, du und ich, wir sind die größten Fotografen unserer Zeit“, soll der Charmeur aus Philadelphia zu ihr gesagt haben.

Inwieweit das Mythos ist oder historischer Fakt, ist im Nachhinein schwer zu beurteilen. In der vom Pariser Jeu de Paume übernommenen Ausstellung jedenfalls spürt man von der Größe der Fotografin vergleichsweise wenig. Zwar ist Kurator Michel Frizot bemüht, neben den zuweilen ausgesilberten Gelatineprints auch historische Zeitschriftenausschnitte und Originaldokumente zu präsentieren, doch der esprit moderne, mit dem die französische Presse damals die „verwirrende Schönheit der elektrischen Stromabnehmer“ und die „zauberhaften Kugellager“ in den Himmel gelobt hatte, will sich in den drei Ausstellungsräumen nicht recht entfalten.

Der Look der Zeit

Auf zahlreichen Aufnahmen wirkt Krull eher wie eine von vielen. Eine mit linkem Auge und schrägem Blick. Eine wie Aenne Biermann oder Alexander Rodschenko. „Neues Sehen“, das war eben der Look der Zeit.

So sind es vor allem die Dokumente von Krulls außergewöhnlichem Leben, die auch heute noch extrem bestechen: 1940 reiste sie nach Rio, um sich der Widerstandsorganisation France Libre anzuschließen. Vier Jahre später begleitet sie die Alliierten als Reporterin in Süditalien und an der Côte d‘Azur. Wie Lee Miller oder Margaret Bourke-White machte sie Aufnahmen von der Befreiung deutscher Konzentrationslager. Nach dem Krieg ging sie nach Asien, leitete in Bangkok ein Hotel und kümmerte sich später um Exiltibeter in Indien.

Vom harten Metall ist sie den Weg in die zarte Innerlichkeit gegangen, vom Kommunismus zur Spiritualität. Leider zeigt die Ausstellung über diese Wandlungen relativ wenig. Geneigt ist eben noch immer vornehmlich das linke Auge.

Germaine Krull - Fotografien: Martin-Gropius-Bau, bis 31. Januar 2016

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