Nein – notwendig und auch riskant

MISSBRAUCH Nein sagen ist leicht gesagt – für Erwachsene, in Interviews und für Aufklärungs-Broschüren. Für Kinder kann das Nein-Sagen Bedrohung und Falle sein. Denn es kann sie im Fall der Fälle mit in einen Strudel aus Schuld und Scham hineinziehen

Wenn Kinder wissen, dass sie Nein sagen dürfen, ist das gut. Besser ist es, zu erfahren: „Meine Aversionen gegen die Küsse von Oma werden ernst genommen“

ELISABETH RAFFAUF

VON ELISABETH RAFFAUF

„Werden Spots wie Ihrer Kinder stärker machen?“ war die Frage an Dani Levy im taz-Interview vergangene Woche. Und er antwortet aufrichtig und als Vater, was er dazu denkt: „Das ist schwierig. Ich glaube, Eltern müssen immer wieder in Ruhe mit ihren Kindern darüber sprechen. ‚Du entscheidest, wer dich anfasst und wer nicht. Und wie.‘ Du musst lernen zu sagen: ‚Halt, ich möchte das nicht.‘“

Kindern beizubringen, Nein zu sagen, das klingt gut und ist wichtig. Manchmal ist es aber leider nur „gut gemeint“. In seiner Konsequenz kann es für Kinder fatale Folgen haben.

Stellen Sie sich vor, wie es einem Kind geht, das von einer Person, die es kennt – und das ist die überwiegende Zahl der Täter – sexuell missbraucht wird. Das Kind wird es nicht glauben, dass diese Person so etwas machen kann, es wird geschockt sein und erst mal an eine eigene Wahrnehmungstäuschung glauben.

Er ist stärker

Vielleicht denkt es auch, dass etwas mit ihm selbst nicht stimmt, dass das alles nicht sein kann, weil es ja diesen Erwachsenen mag und der würde ihm doch niemals etwas antun. Oder aber, das Kind mag ihn nicht, vielleicht hat es Angst vor ihm. Was es sicher weiß: Er oder sie ist stärker. Körperlich ist er ihm in jedem Fall überlegen. Vielleicht droht er auch, dass etwas Schlimmes mit ihm oder seiner Familie passiert, wenn das Kind sich wehrt oder jemandem davon erzählt.

Vielleicht hat er oder sie auch Geschenke oder verspricht Belohnungen, Vielleicht vernebelt er auch seine Sinne, indem er dem Kind versichert, dass das ganz normal sei und das alle das machen. „Überall auf der Welt würden Väter das mit ihren Töchtern machen“, zitiert Pola Kinski ihren Vater Klaus in ihrem Buch „Kindermund“.

Kinder sind, wenn ein Bekannter, Verwandter, Freund der Eltern, Nachbar, Lehrer, jemand, den sie lange kennen, sich ihnen plötzlich sexuell nähert, wie erstarrt. Sie können oft nicht Nein sagen. Wenn man ihnen aber sagt, dass sie das müssen, haben sie am Ende zu ihrem schrecklichen Erlebnis noch ein großes Schuldgefühl: „Ich hätte ja Nein sagen können.“ Und das bewirkt, dass sie sich noch weniger trauen, sich jemandem anzuvertrauen.

Dani Levy ist mit seiner Hoffnung, Kinder könnten sich schützen, wenn sie lernen, Nein zu sagen, nicht allein. Kinderschutz-Organisationen haben mit Slogans wie „Nein heißt Nein“, oder „Du darfst Nein sagen“ lange für das Nein der Kinder geworben – ohne den Aspekt, dass sie genau damit manche Kinder erst recht in die Enge treiben, zu berücksichtigen.

Heute ist man im Kinderschutz sehr viel vorsichtiger geworden. Das Kinderschutzzentrum Oldenburg zum Beispiel formuliert sein Anliegen differenzierter: „… dass Kinder besser vorbereitet werden sollen, damit sie besser Nein sagen oder weglaufen oder sich Hilfe holen, wenn Erwachsene oder Ältere dinge tun, die sie nicht möchten“.

Das Vertrackte ist, dass es in manchen Situationen wiederum nützlich und hilfreich ist, wenn Kinder wissen, dass sie Nein sagen dürfen. „Wenn ein Fremder dich bittet, in sein Auto zu steigen, sag Nein“, oder im Internet gegen das sogenannte „grooming“ (Anbahnen des Missbrauchs im Internet): „Wenn ein Internet-Freund dich plötzlich bittet, dich vor der Kamera auszuziehen, sag Nein.“ Obwohl es auch da sein kann, dass Kinder einer solchen Aufforderung nachkommen, weil sie sonst den netten Freund verlieren würden, der ihnen so viele Komplimente macht und immer für sie da ist – wenn auch nur virtuell.

Nein sagen lernen – ja, aber: Die Verantwortung für sexuellen Missbrauch liegt einzig und allein bei den Erwachsenen. Auch wenn Kinder zu Missbrauchssituationen Ja sagen oder angeblich sogar aktiv „mitmachen“, wie sich manche wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern Angeklagte zu verteidigen suchen. Kinder haben nicht die freie Entscheidung. Sie sind immer Opfer. Es gibt keinen konsensuellen Sex mit einer 13-Jährigen, den etwa Roman Polanski 1977 für sich in Anspruch nahm, als er ein Mädchen in die Villa eines Freundes lockte – angeblich um sie zu fotografieren.

Wenn Kinder wissen, dass sie Nein sagen dürfen, ist das eine gute Sache, noch besser ist, es zu erfahren: „Meine Aversionen gegen die Küsse von der Oma oder die ausführlichen Umarmungen des Onkels werden ernst genommen. Ich muss das nicht mitmachen, wenn ich es nicht will.“ Hier sollten Eltern ihren Kindern die Möglichkeit geben, solche Grenzüberschreitungen nicht zuzulassen.

Kinder in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken und ihr Nein zu respektieren ist wichtig – auch wenn es Eltern in manchen Situationen herausfordert. Geht es um das Thema Nein-Sagen in Bezug auf ungewünschte Annäherungen anderer, müssten Kinder auch erfahren: „Es gibt Situationen in denen es schwerfällt, Nein zu sagen, weil man sich überrumpelt fühlt oder Angst hat. Dann kann es sein, dass einem das nicht gelingt. Aber dafür trägt ein Kind niemals die Schuld. Wenn es passiert, ist es sehr erleichternd, darüber zu sprechen mit jemandem, dem man vertrauen kann und von dem man weiß, er wird mir nicht die Schuld geben, sondern mir zuhören und mir glauben.“

■ Die Autorin hat gerade das Buch herausgebracht: „So schützen Sie Kinder vor sexuellem Missbrauch: Prävention von Anfang an“. Patmos 2012, 196 S., 14,99 €