Auf dem Rückender Pferde

Pakt Die Schilderung einer Trennung als Menschheits- und Kulturgeschichte: Ulrich Raulff spürt der langen, ereignisreichen Beziehung zwischen Mensch und Pferd nach

Zarif lernt buchstabieren; aus: Karl Krall, „Denkende Tiere“ Foto: Verlag C. H. Beck

von Detlev Claussen

Wer dieses Buch in die Hand nimmt, den lässt es nicht mehr los. Ulrich Raulff hat für sein monumentales Werk „Das Jahrhundert der Pferde“ eine offene, leserfreundliche Form gefunden – drei elegant geschriebene Großessays und ein abschließendes sechzigseitiges Feuerwerk an Gedanken, Ideen, Einfällen und Notizen. In den Essays erscheint das Pferd in „drei Ökonomien“, in denen es eine zentrale Rolle als „Beweger“ spielt, als „großer Umwandler von Energie, Wissen und Pathos“.

Raulff widersteht der Versuchung, sein enzyklopädisches Wissen vom Pferd in eine Weltgeschichte des Pferdes zu verwandeln; seine Aufmerksamkeit liegt auf dem „kentaurischen Pakt“. So nennt er die Arbeits- und Lebensgemeinschaft von Mensch und Pferd, die es nur noch in der Erinnerung gibt.

Als Dreh- und Angelpunkt seiner Darstellung wählt Raulff eben das „Jahrhundert der Pferde“, das er lapidar von „Goe­the bis zum Zweiten Weltkrieg“ datiert. Goethes Zeitgenosse Hegel hatte 1806 in Napoleon die „Weltseele“ zu Pferde gesehen, in der rückblickend der Gang der Weltgeschichte in einem vernünftigen Licht erscheint.

Raulff verschiebt den Blick nach unten – auf die Verbindung von Reiter und Pferd. Die Zähmung und Beherrschung des Pferdes durch den Menschen gehört in die Anthropologie; aber der „kentaurische Pakt“ lenkt das Interesse auf die Symbiose von Mensch und Tier, in dem Glanz und Elend des vergessenen tierischen Partners in den Blickpunkt rücken.

Als Goldenes Zeitalter des kentaurischen Systems benennt Raulff das lange 19. Jahrhundert von der Französischen bis zur Russischen Revolution, an deren Anfang auch noch eine große Reitergeschichte steht, die von Isaak Babel im Roman festgehaltene „Reiterarmee“. Aber in ihren Kämpfen wird auch schon der Prozess der „Entpferdung“ (Babel) sichtbar. Raulff schreibt seine Geschichte aus der Gewissheit der epochalen Trennung von Mensch und Pferd.

Ulrich Raulff: „Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung“. C.H. Beck Verlag, München 2015, 461 Seiten, 29,95 Euro

Achtet man auf das kentaurische System, dann wird die Trennung von Kultur und Zivilisation obsolet. Die Pferde erscheinen als ungeheure Produktivkraft der menschlichen Geschichte, ohne die es zur Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft nicht gekommen wäre. Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts wird von Raulff eindringlich als „Pferdehölle“ vor Augen geführt. Zugleich werden Pferd und Reiter als „Pathosformel“ (Aby Warburg) der Herrschaft in Kunst und Literatur vorgeführt.

Bezeichnenderweise stürzten die kleinbürgerlichen jakobinischen Revolutionäre die Reiterstandbilder Frankreichs, während die bürgerliche Herrschaft in imperialer Gestalt sich als Gemälde von David verewigen ließ: Napoleon auf aufgebäumtem Schimmel, der die Alpen überquert. Im Hintergrund des Gemäldes erkennt man die Artillerie, die der Schlüsselrolle der Kavallerie im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Ende bereiten wird. Die wachsende Geschwindigkeit der Ladevorgänge verdrängte die Pferde in ihre alte Rolle als Zugtiere, die im Ackerbau bis ins 20. Jahrhundert unentbehrlich blieben. Auch auf dem Schlachtfeld: Noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war der Krieg in Russland ohne Millionen von Pferden nicht denkbar. Ein schönes Bild in diesem hervorragend illustrierten Werk zeigt Marschall Schukow bei der Moskauer Siegesparade 1945 auf einem Schimmel.

Ulrich Raulff, Leiter des Marbacher Literaturarchivs, ein homme de lettre, wie er im Buche steht, universal gebildet in Wissenschaft und Kunst, hat mit leichter Hand ein Buch geschrieben, das Kenntnisreichtum und Erfahrung artistisch miteinander verknüpft. Als absolutes Paradestück kann Raulffs brillant erzählte Landnahme des amerikanischen Westens und ihrer Spiegelung im Western gelten. In diesem kentaurischen Essay muss man auf so gut wie nichts verzichten. Ackerbau und Pferdezucht, Schlachtfeld und Rennbahn, Sport der Könige und Spekulationsmöglichkeit proletarischer Wetter – für alles hat Raulff ein Auge. Eine Bibliothek in einem Band.